Nachtprinzessin
Schwester.«
Mit zügigen Schritten verließ er die Klinik.
Während der Autofahrt ins Büro beruhigte er sich, und es gelang ihm sogar, seine Mutter in der Klinik zu vergessen. Stattdessen dachte er an Jochen Umlauf und musste lächeln. Er war nicht gerade ein Adonis, aber richtig süß gewesen. Ganz lieb und gefügig und hatte alles getan, was Matthias wollte. Ohne Murren und ohne Argwohn. Es hatte ihm sogar Spaß gemacht.
Matthias musste anhalten. Die Erinnerung brachte ihn dermaßen aus der Fassung, dass er nicht weiterfahren konnte. Noch nie hatte er etwas Derartiges erlebt, es war das Größte und Gewaltigste, was ein Mensch überhaupt erfahren konnte. Eine ganz neue Welt hatte sich ihm eröffnet, eine, die er nicht mehr missen wollte.
Die Lust, die sich in Jochens Gesicht in Schmerz verwandelte, war grandios. Er allein hatte es in der Hand, konnte das eine oder andere intensivieren. Er spielte mit Jochens Empfindungen wie auf einem Instrument. Der fremde junge Mann, der sich ihm völlig ausgeliefert hatte, war in seiner Gewalt. Das war an sich noch nichts Neues, das hatte er schon oft erlebt, aber der Gedanke, der ihm dann kam, war neu, und er zitterte vor Aufregung.
Bisher hatte er seine Bekanntschaften immer gehen lassen. Die Liebesnacht war vorbei, man trennte sich und sah sich in fast allen Fällen nie wieder. Aber diesmal nicht, dachte er, diesmal werde ich ihn behalten, es steht in meiner Macht, ihn zu töten, und ich werde es tun.
Als er begann, den Seidenschal um Jochens Hals zu legen und zuzuziehen, war die Angst, die sich nun in dessen Zügen spiegelte, noch wunderbarer als der Schmerz. Er konnte das existenziellste Gefühl beobachten, zu dem ein Mensch überhaupt fähig war, und er konnte sich daran nicht sattsehen. Jochen kämpfte, und seine Todesangst war phänomenal. Immer wieder lockerte Matthias den Zug um seinen Hals, um es wieder und wieder mit anzusehen, bis er es selber nicht mehr aushielt. Jochens Augen quollen aus ihren Höhlen, seine Gesichtsfarbe war rötlich violett und erinnerte Matthias an ein Bild von Andy Warhol.
Jochens gesamter Körper verkrampfte sich, es war ein einziger Schrei nach Leben, aber er hatte keine Chance, weil Matthias es nicht wollte. Sein Leben erlosch in dem Moment, als Matthias zum Orgasmus kam. Er genoss diesen unvorstellbaren Rausch, und seine explodierenden Sinne öffneten den Blick auf ein neues, ganz anderes, glücklicheres Leben.
Es dauerte Minuten, bis er begriff, dass alles vorbei war. Jochen war tot, und er konnte nichts mehr für ihn tun. Er band ihn nicht los, bedeckte ihn nicht und war davon über zeugt, dass Jochen einen wunderbaren Tod gestorben war. Den Seidenschal nahm er mit, ansonsten ließ er in Jochens Wohnung alles, wie es war, machte sich auch nicht die Mühe, Fingerabdrücke abzuwischen. Putzen war nicht seine Welt, und mit seinen Fingerabdrücken oder seiner DNA konnte niemand etwas anfangen. Er war noch nie auffällig geworden, existierte in keiner Datei der Polizei.
Ganz leicht und selig verließ er das Haus, in dem Jochen gewohnt hatte. Ohne schlechtes Gewissen und ohne Sorgen. Das Leben war einfach großartig.
Matthias startete den Wagen. Er war in Hochstimmung, pfiff leise vor sich hin und fuhr direkt ins Büro.
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Stuttgart, Juni 2009
Frau Umlauf stand mitten in ihrem Wohnzimmer, deren Wände sie in einem leichten Orangeton gestrichen hatte, um etwas Farbe in ihre trostlose Neubauwohnung im dritten Stock eines Hochhauses am Rande Stuttgarts zu bringen. Vor dem großen Fenster hingen Gardinen, die absichtlich gekürzt waren, um auf dem Fensterbrett Platz für kleine Topfpflanzen zu lassen, robuste dickblättrige Gewächse, die die trockene Heizungsluft im Winter ertragen konnten. Sie stand auf den anderthalb Quadratmetern zwischen Esstisch und Couchgarnitur und hatte das Gefühl, nie mehr im Leben einen Schritt machen zu können.
Vor knapp zehn Minuten waren die beiden Polizisten gegangen. Ein Mann und eine Frau. Sie waren sehr freundlich gewesen, hatten ihr so schonend wie möglich versucht beizubringen, dass Jochen tot war, und die Frau hatte die ganze Zeit ihre Hand gehalten, was sie als unangenehm empfunden hatte. Sie sollten sie alle in Ruhe lassen und verschwinden, damit sie das, was sie eben gehört hatte, so schnell wie möglich wieder vergessen konnte. Albträume wurde man am besten los, wenn man an etwas völlig anderes dachte.
Jochen. Ihr intelligentes Kind, das es bis auf die Uni geschafft hatte. Ihr
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