Nachtprinzessin
hinterher sofort den Mund ab.
Er hasste das alles und hätte es natürlich auch Tatjana machen lassen können, aber er sah die Blicke der anderen Passagiere und gefiel sich in der Rolle des aufopferungsvollen Sohnes, der alles tat, um seiner armen, kranken Mutter das Leben so schön wie möglich zu gestalten. Außerdem beruhigte es sein ständiges schlechtes Gewissen, sich zu wenig um sie gekümmert zu haben, wenigstens etwas.
Zwei Stunden verbrachte Matthias mit seiner Mutter in der Lido-Bar, und Henriette redete ohne Punkt und Komma. Erzählte Geschichten von früher, die er schon auswendig kannte, weil sie sie jeden Tag erzählte. Dann fielen ihr regelmäßig die Augen zu, und sie nickte ein. Matthias gab Tatjana, die vier Stück Torte verdrückt hatte, einen Wink, und Tatjana schob Henriette für ein kleines Schläfchen zurück in ihre Kabine.
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Beim Abendessen fütterte er seine Mutter mit rosig gebratenem Filetsteak, das er in winzige Würfel geschnitten hatte, bis sie fast in einzelne Fasern zerfielen. Zusammen mit Mango-Chutney-Soße schluckte sie bereitwillig jeden Bissen, aber die Brot- oder Salathappen, die er ihr zwischendurch auch in den Mund zu stecken versuchte, spuckte sie ohne Vorwarnung einfach wieder aus.
Es machte ihn wütend, aber er ließ sich nichts anmerken, lächelte milde, wischte das Ausgespuckte, das ihn zu Tode ekelte, möglichst unauffällig mit Servietten auf und strich ihr liebevoll immer wieder über die Wange.
Wohl wissend, dass es von den beiden Witwen gesehen wurde, die irgendwie immer in seiner Nähe waren und ihn ständig zu beobachten schienen.
Ein paar Tische weiter saß schon wieder dieses grässliche Arztehepaar. Gerade als Matthias hinübersah, kreischte die Frau laut auf und riss die Hände hoch, als hielte ihr jemand einen Revolver in den Rücken.
Matthias verdrehte die Augen.
»Da ist Blut!«, schrie sie. »Auf meinem Teller ist Blut!«
Ihr Mann legte ihr beruhigend eine Hand aufs Knie. »Rebecca, bitte, reg dich nicht auf, wir können ja dein Steak noch etwas mehr durchbraten lassen.«
Rebecca hieß die hysterische Ziege also.
Jetzt sackte sie in sich zusammen. »Mir ist richtig übel«, stöhnte sie.
Ihr Mann winkte dem Kellner, und Matthias war es leid, die beiden weiter zu beobachten, es ärgerte ihn schon wieder und verdarb ihm das herrliche Barbecue in der warmen Sommernacht.
Die Mousse au Chocolat schluckte Henriette widerstandslos. Anschließend lehnte sie sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Ich bin satt«, sagte sie, und damit war die Fütterung beendet.
Matthias stand auf und bedeutete Tatjana, die am Nebentisch wartete, mit einer auffordernden, aber dennoch elegant fließenden Handbewegung: Du bist dran. It’s your turn. Nimm den Rollstuhl und fahr los!
Tatjana verstand sofort. Umständlich bugsierte sie den Stuhl zwischen den Tischen hindurch und machte sich auf den Weg. Eine geschlagene Stunde würde sie nun immer wieder um das ganze Schiff herumlaufen. Eine Runde waren dreihundertfünfzig Meter, der Parcours, der morgens von Joggern unterschiedlich oft zurückgelegt wurde.
Wieder eine wundervolle Verschnaufpause.
Er setzte sich und zündete sich einen superschmalen Zigarillo an, eine Sorte, die er nur wegen des ungewöhnlich eleganten Erscheinungsbildes gekauft hatte, denn im Grunde interessierte es ihn herzlich wenig zu rauchen. Es widerte ihn auch nicht an – es war ihm einfach egal. Ob er rauchte oder nicht, das spielte für ihn keine Rolle.
Den hauchdünnen Zigarillo zwischen den Fingern strich er sich die Haare aus der Stirn. Er setzte ein sorgenvolles Gesicht auf, dem er durch einen tiefen Atemzug noch einen Hauch Schmerz hinzufügte, und sah – scheinbar ganz in Gedanken – hinaus aufs Meer.
Die ältere der beiden Witwen war lang und hager und hatte ein scharfkantiges Gesicht, dessen Konturen von den tiefen Falten noch unterstrichen wurden. Durch ihre derbe, lederne Haut sahen sie aus wie Nähte in einem Kissen. Matthias hatte Lust, die Schründe mit Spachtelmasse aufzufüllen und wie Risse im Putz zuzuschmieren. Die blond gefärbten Haare, die sie sich in weichen Wellen in die Stirn kämmte, konnten nichts daran ändern, dass sie hart und verbittert wirkte.
Ihre Freundin musste einmal eine Schönheit gewesen sein. Ihre feinen Züge waren mit den Jahren nur ausdrucksstärker und interessanter geworden, was sie durch ihre Haare, die sie schlicht nach hinten gekämmt und im Nacken
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