Nachtprinzessin
zusammengefasst hatte, noch unterstrich. Auch sie war schmal und schlank, wirkte aber nicht so grob und verhungert wie die andere.
»Bitte entschuldigen Sie, dass wir Sie stören«, begann die Jüngere vorsichtig, als sich die beiden Matthias’ Tisch näherten, »aber haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns einen Moment zu Ihnen setzen?«
»Aber ganz und gar nicht!« Matthias löschte seinen Zigarillo augenblicklich, aber nicht eilig, erhob sich, deutete eine Verbeugung an und rückte den beiden Damen zwei Stühle zurecht. »Bitte, nehmen Sie doch Platz! Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?«
»Nein, nein, vielen Dank, wir haben gerade einen Kaffee getrunken, und wir wollen Ihnen auch nicht Ihre kostbare Zeit stehlen, es ist nur so, wir treffen uns ja hin und wieder hier oben in der Lido-Bar …« Sie suchte nach Worten. »Also … wir wollten Ihnen nur sagen, wie fantastisch wir es finden, dass Sie sich so rührend um Ihre Frau Mutter kümmern. Immer geduldig und liebevoll … So etwas sieht man wirklich selten!« Sie sah Matthias direkt an und errötete leicht.
Matthias lächelte geschmeichelt.
»Das ist nett, dass Sie das sagen. Danke.«
»Hatte Ihre Mutter einen Unfall?«
»Nein. Einen Schlaganfall. Aber sie ist auf dem Weg der Besserung.«
»Sie spricht wenig?«
»Unterschiedlich. Mal spricht sie viel, mal wenig. Das kommt darauf an. Jedenfalls genießt sie diese Reise sehr.«
»Für Sie ist es aber nicht unbedingt eine Erholung, obwohl sie diese Frau, diese Hilfe, dabeihaben.«
»Es ist in Ordnung. Ich freue mich über jede Minute, in der es meiner Mutter noch einigermaßen gut geht.« Während er sprach, überlegte Matthias, ob er eben, als die Ältere »diese Hilfe« gesagt hatte, einen abfälligen Unterton gehört hatte. Aber vielleicht hatten die beiden ja Tatjanas Essmanieren beobachtet, und auch ihre gewöhnungsbedürftige Kleidung war nicht zu übersehen.
Es konnte alles sein, er ließ es auf sich beruhen, ging nicht weiter darauf ein und seufzte theatralisch.
Die beiden Damen schwiegen beeindruckt.
In diesem Moment schob Tatjana zum zweiten Mal den Rollstuhl vorbei. Matthias ergriff die Gelegenheit, weil er der Meinung war, dass die beiden Grazien genug erfahren hatten. Es war sinnlos, weiter krampfhaft über seine Mutter zu reden oder nach Gesprächsthemen zu suchen.
»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte er und reichte den beiden die Hand. »Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Aber jetzt muss ich mich wieder um meine Mutter kümmern.«
Damit schob er die fassungslose Tatjana sanft beiseite und entfernte sich mit dem Rollstuhl, äußerst zufrieden mit der kleinen Vorstellung seines Samariterdaseins, aber auch heilfroh, den beiden neugierigen Damen, die sich offensichtlich an Bord langweilten, entflohen zu sein.
60
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Die Nacht war sternenklar. Als Matthias das Achterdeck betrat, ertappte er sich dabei, dass seine Hand automatisch in die Brusttasche seines Jacketts fuhr, wo normalerweise seine Sonnenbrille steckte, und er musste über sich selbst lächeln.
Noch vierundzwanzig Stunden, dann war Vollmond, und an Deck war es beinah taghell.
Weit und breit kein einziger Passagier und auch niemand von der Besatzung. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten vor halb drei. Wunderbar. Das war die Zeit, die er liebte, seine ganz eigene blaue Stunde, Erholung nach der Last des Tages. Und wenn es irgendwie ging, dachte er nicht daran, diese köstlich stille Stunde zu verschlafen.
Einen Moment stand er an der Reling und sah auf das vom fahlen Mondlicht beleuchtete, nachtschwarze Meer. Der Ozean zeigte eine schwere Dünung, und die Schaumkronen der Wellen, die vom Licht des Schiffes angestrahlt wurden, leuchteten weiß und beinah grell.
Er konnte sich nicht sattsehen daran.
Die Schiffsmotoren arbeiteten ruhig und gleichmäßig, das Schiff stampfte durchs Wasser, ein beruhigendes Geräusch, das fast so etwas wie Geborgenheit signalisierte.
Aus den Deckskisten an der Seite, unmittelbar neben den Rettungsbooten, nahm er eine blaue Schaumstoffauflage und legte sie auf einen Liegestuhl, den er nah an die Reling rückte. Hier wehte ein frischer Wind, den er im Schutz der Brücke nicht gespürt hatte, aber er störte ihn nicht. Im Gegenteil. In seinem Alltag in der Stadt kam Wind so gut wie gar nicht vor.
Er legte sich auf den Liegestuhl und sah in den Himmel. Noch nie war ihm so bewusst geworden, wie unendlich viele Sterne es gab, allein in seinem kleinen
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