Nachtprinzessin
Gegenwehr wird auf einem Boot zu einer wackeligen Angelegenheit. Es ist nicht einfach, jemand in so einem Kahn umzubringen, dazu müsste das Opfer schon betäubt sein. Im Moment stellt die Spusi das Haus auf den Kopf. Spricht ’ne Menge dafür, dass er dort getötet wurde.«
»Danke, Doktor. Lassen Sie mich wissen, wenn die Obduktion etwas ergeben hat.«
Dr. Schacht nickte und ging zu seinem Wagen.
Bevor Susanne zu ihrem Assistenten Ben, der zurzeit Wilhelm Wesseling ausführlich befragte, und den Kollegen der Spurensicherung ging, sah sie noch einmal ruhig über den See.
Dritter Teil
DRITTER TEIL
TODESSEHNSUCHT
58
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Atlantik, westlich von Madeira, September 2009
Seit zwanzig Stunden pflügte die MS Deutschland ruhig durch den Atlantik.
Matthias schlenderte über das Kommodore-Deck und überlegte, ob er noch genügend Zeit hatte, in der Bar »Zum Alten Fritz« einen Sherry zu trinken, als er Tatjana auf sich zukommen sah.
Mit ihren kurzen, stämmigen Beinen, die wie Bockwürste unter ihrem knielangen Rock hervorquollen, rührte sie ihn zwar, aber gleichzeitig war sie ihm auch so widerwärtig wie nur irgendetwas.
Konnte er es schon nicht verhindern, beim Essen mit ihr an einem Tisch zu sitzen, ekelte er sich streckenweise so, dass er nichts mehr hinunterbekam. Denn wenn sie Gabel oder Löffel zum Mund führte, streckte sie ihre fleischige Zunge so weit vor, dass sie bis zum Grübchen ihres Kinns herunterhing, um sie dann wie eine fleischfressende Pflanze zurückzuziehen und den Bissen zu verschlingen.
So fraß Tatjana und schmatzte dabei hemmungslos. Oft sah sich Matthias ängstlich um, ob es jemand von den anderen Passagieren mitbekam. Er schämte sich unsäglich für sie.
Aber Tatjana erledigte ihre Aufgaben zu seiner vollsten Zufriedenheit. Immerhin musste sie ständig nach seiner Mutter sehen, sie waschen und wickeln, in den Rollstuhl hieven und sie dann übers Schiff schieben. Auf die Sonnenterrasse oder in eines der Restaurants.
Mithilfe einer Agentur hatte er Tatjana für diese Kreuzfahrt engagiert. Es musste für die vierzigjährige Russin, die bisher nur versiffte Seniorenwohnungen geputzt oder bettlägerige Alte gewaschen, gefüttert und gewindelt hatte, wie ein Lottogewinn gewesen sein.
Matthias hatte ihr eine Innenkabine auf Deck vier, dem Steuermanns-Deck, gebucht. Die Kabine war nicht groß und sehr schlicht, aber für Tatjana musste es reichen. Immerhin hatte die Kabine – wie alle – ein eigenes Bad. Auf ein Bullauge oder ein Fenster, um hinaus aufs Meer sehen zu können, musste sie verzichten.
Seine Mutter wohnte ebenfalls in einer Einbettkabine auf dem Steuermanns-Deck, allerdings lag ihre Kabine außen, sodass sie aufs Meer gucken konnte. Es war Matthias äußerst praktisch erschienen, dass Patientin und Pflegerin auf demselben Deck untergebracht waren.
Manchmal sah Tatjana sogar nachts nach Henriette. Falls sie noch einigermaßen nüchtern war, denn wenn sie gegen zweiundzwanzig Uhr Henriette ins Bett gebracht hatte, ließ sie sich normalerweise an einer der Bars mit Wodka volllaufen, und Matthias hatte die Vermutung, dass auf diese Weise von ihrem Lohn, oder besser: von dem Taschengeld, das er ihr neben der Reise zukommen ließ, nicht viel übrig blieb.
Tatjana lebte seit fünf Jahren in Deutschland, konnte die Sprache gut verstehen, aber ziemlich schlecht sprechen. Immerhin verstand sie, welche Aufgaben sie zu erledigen hatte. Selbst sagte sie kaum etwas. »Guten Morgen«, »Gute Nacht« und »Danke«. Manchmal nickte sie oder schüttelte den Kopf. Das war fast alles.
Matthias empfand es als sehr angenehm, dass sie keine blödsinnigen Widerworte gab oder Diskussionen anzettelte, die zu nichts führten.
Als er ihr jetzt an Deck begegnete, wusste er, dass sie gerade auf dem Weg zu seiner Mutter war, aber er fragte sie trotzdem: »Holst du meine Mutter zum Kaffee?«
Tatjana nickte.
»Gut. Dann treffen wir uns in einer Viertelstunde auf dem Lido-Deck. Bring ihr eine leichte Decke mit, dort oben ist es windig.«
Tatjana nickte, streckte den Kopf vor wie eine Schildkröte, die unter ihrem Panzer hervorkam, und stapfte weiter.
Matthias stützte sich mit den Unterarmen auf die Reling und sah hinaus aufs Meer. Diese stillen Momente an Bord waren selten, er hatte ständig das Gefühl, seiner Mutter Gesellschaft leisten zu müssen, Tatjana war da sicher kein Ersatz.
Seine Mutter hatte sich schon seit Jahren gewünscht, einmal mit dem Traumschiff zu fahren, und auch keine Folge
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