Nachtprinzessin
hinterlassen, dass er dort unbedingt auf mich warten soll – nichts.« Rebecca schaffte es kaum noch, die Fassung zu bewahren. »Er ist weg. Einfach weg!«
»Wie war noch mal Ihre Zimmernummer?«
»5077.«
Die Blondine nahm das Telefon und wählte, aber es nahm niemand ab.
»Ich glaube, wir müssen den Kapitän verständigen«, sagte sie leise, weil sie nicht wollte, dass es die Passagiere, die von ihrer Kollegin bedient wurden, mitbekamen. »So etwas ist auf diesem Schiff, soviel ich weiß, noch nie passiert, aber es hilft ja alles nichts: Wir müssen den Kapitän verständigen.«
Einen verschwundenen Passagier zu suchen verlief wie eine Katastrophenübung nach Plan. Offiziere und Stewards wurden verständigt, und jeder suchte seinen Zuständigkeitsbereich ab. Das System funktionierte perfekt, und nach zwei Stunden war mit fast hundertprozentiger Sicherheit klar: Dr. Heribert Bender war nicht mehr an Bord.
Flugzeuge wurden entsandt und suchten den Atlantik nach dem Vermissten ab, obwohl die Suche schon zu Beginn so gut wie aussichtslos war, da niemand wusste, um welche Zeit der Arzt über Bord gegangen war, und somit die ungefähre Position des Unglücksortes nicht ermittelt werden konnte.
Es war die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.
Nach vierundzwanzig Stunden wurde sie eingestellt.
Kurz vor dem Abendessen war Tatjana mit Henriette beschäftigt, um sie herzurichten, und Matthias saß auf seinem Lieblingsplatz an Deck, als die beiden Witwen auf ihn zukamen. Nach dem Gespräch in der Lido-Bar zeigten sie sich jetzt viel zutraulicher.
»Haben Sie schon gehört?«, fielen sie gleich ohne lange Vorrede mit der Tür ins Haus. »Dieser nette junge Arzt, ich glaube, er war Orthopäde, wissen Sie, wen ich meine? Der mit der schwangeren Frau …«
Matthias nickte.
»Der wird vermisst! Das heißt, er ist verschwunden. Wahr scheinlich über Bord gefallen und ertrunken.« Das Entsetzen stand der Hageren ins Gesicht geschrieben.
»Ja, ich habe davon gehört«, sagte Matthias. »Das ist eine ganz fürchterliche Geschichte. Wenn ich nur daran denke, bekomme ich sofort eine Gänsehaut!«
»Genau! So geht es uns auch! Was sagen Sie denn dazu? Wie kann so was überhaupt passieren?«
»Ich weiß es nicht. Es ist eigentlich unvorstellbar. Vielleicht war der Mann betrunken und hat an der Reling das Gleichgewicht verloren? Mehr Möglichkeiten gibt es ja gar nicht!«
»Eben«, sagte die Hübschere. »Und das macht die Sache so bedrohlich. Bei einem Kind kann das passieren – aber doch nicht bei einem erwachsenen Mann!«
Matthias wollte die Spekulationen beenden. »Wir werden nie erfahren, warum er über Bord gegangen ist, aber wenn ich mir vorstelle, wie er da im Wasser schwimmt, noch sieht, wie das Boot davonfährt, weil niemand bemerkt hat, dass er gefallen ist, das muss ein entsetzliches Gefühl sein. Das schlimmste überhaupt. Denn er weiß, dass er keine Chance hat, keine Hoffnung auf Rettung. In der unendlichen Weite des Ozeans ist er verloren. Er ist mutterseelenallein und kann nicht aufhören, an seine Frau und sein ungeborenes Kind zu denken. Die Sehnsucht bringt ihn fast um den Verstand. Doch die Qual wird noch Stunden dauern. Unentwegt sieht er dem eigenen Tod ins Auge, bis ihn seine Kräfte verlassen und er langsam im Meer versinkt.«
»Mein Gott, hören Sie auf!«
»Ja, aber so ist es doch! Ich denke schon den ganzen Tag an nichts anderes, es macht mich fertig, ich glaube, ich bekomme heute Abend keinen Bissen herunter.«
»Das müssen Sie aber. Sie können ihm ja nicht helfen!«
»Nein. Niemand kann ihm helfen. Gegen das Schicksal sind wir alle machtlos.«
»Da haben Sie recht.« Beide Witwen wirkten jetzt völlig verstört. »Komm, Lisa«, sagte die Hübschere. »Ich möchte vor dem Essen noch mal kurz in die Kabine. Angenehmen Abend noch!«
»Danke gleichfalls.«
Die beiden Damen entfernten sich. Matthias hatte den Eindruck, sie hätten es plötzlich eilig, von ihm wegzukommen, und das amüsierte ihn.
Entspannt legte er sich zurück, schloss die Augen und genoss die Abendsonne.
Rebecca war mit ihrer Kraft am Ende. Sie konnte nicht weinen und nicht mehr hoffen, sie fühlte sich wie versteinert.
Ganz allmählich wurde ihr klar, dass Heribert sie von einer Sekunde auf die andere ohne Grund verlassen hatte und von den Wellen des Atlantiks verschluckt worden war, aber sie konnte nicht begreifen, warum.
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Um neun Uhr hämmerte Tatjana wie eine Verrückte an Matthias’ Kabinentür.
»Was
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