Nachtprinzessin
beschränkten Blickfeld auf diesem Punkt der Erde.
Einen Stern musste er finden, seinen eigenen. Einen, der nur für ihn leuchtete, der ihn begleitete, egal, wo er sich aufhielt. Den er immer wiedererkannte, wenn er die Zeit und Muße finden sollte, in Deutschland in den Himmel zu schauen.
Er war nicht religiös, aber in dieser Nacht war er dankbar für sein wunderbares, erfülltes Leben, für den Frieden, den er gerade jetzt, in diesem Moment empfand.
Natürlich war er einsam, aber das war gut so. Ein Genie musste einsam sein. Warum nur konnte nicht jeder seiner Gedanken der Nachwelt überliefert und erhalten werden? Sein Leben und seine Leidenschaft waren einzigartig. Ein treffenderes Wort gab es dafür nicht.
Er atmete tief durch und streckte sich wohlig aus. Ein warmer Schauer absoluter Zufriedenheit durchzog ihn. Vielleicht würde er jede Nacht an Deck verbringen.
Eine Melodie fiel ihm ein, die in seinem Kopf zu klingen begann, und er überlegte, um welches Lied es sich handelte, als er die schwere Eisentür zum Promenadendeck klappen hörte.
Unwillkürlich zuckte er zusammen und wurde augenblicklich wütend über die Störung.
Es war der gut aussehende Mann, der Arzt, der zum Frühstück nur Obst aß und seine schwangere Frau umsorgte, als wäre sie sterbenskrank.
Und jetzt kam er mitten in der Nacht an Deck. Allein. Ohne seine Frau.
Er nickte Matthias kurz zu und stellte sich an die Reling.
Hoffentlich spricht er mich nicht an, dachte Matthias. Das ist das Letzte, was ich will und was ich jetzt gebrauchen kann. Außerdem zerstörte er das Bild. Die kostbare Einsamkeit an Bord.
Es regte ihn auf, dass der Mann es wagte, dort zu stehen. Es war ein ästhetisches Problem.
Der Arzt hielt sich merkwürdig unsicher an der Reling fest, schwankte leicht und dann erbrach er sich ins Meer.
Das ist ja ekelhaft.
Mehr dachte er nicht.
Matthias stand aus seinem Liegestuhl auf, ging zu dem jungen Arzt, dem immer noch übel war, und ohne ein Wort zu ihm zu sagen, packte er ihn an den Beinen, hob ihn hoch und warf ihn wie ein Paket über die Reling ins Meer.
Nach ein oder zwei Sekunden hörte er, wie der Körper auf dem Wasser aufschlug.
Es interessierte ihn nicht. Er sah ihm noch nicht einmal hinterher, sondern drehte sich mit einem eleganten Hüftschwung um und legte sich zurück auf seinen Liegestuhl.
Allmählich kehrte wieder Frieden ein. Er schloss die Augen und genoss diese wundervolle Nacht.
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»Ich habe ein Problem«, begann Rebecca vorsichtig an der Rezeption. »Mein Mann ist verschwunden. Ich habe überall gesucht, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.« Dass der Erdboden eine völlig unpassende Formulierung gewesen war, fiel ihr erst auf, als sie es schon ausgesprochen hatte, aber die Blondine hinter dem Tresen hatte sehr gut verstanden, was sie meinte, und starrte sie ungläubig an.
»Wie verschwunden? Ich meine, haben Sie sich irgendwo verabredet und das hat nicht geklappt? So was passiert auf einem Schiff öfter, als Sie denken. Soll ich ihn mal ausrufen? Wie ist denn der Name?«
»Heribert. Dr. Heribert Bender. Kabine 5077.«
»Und Ihr Name?«
»Rebecca Bender.«
Die Dame an der Rezeption nickte und nahm das Mikro zur Hand.
»Heribert Bender. Dr. Heribert Bender! Bitte melden Sie sich an der Rezeption! Dr. Heribert Bender! Bitte melden Sie sich an der Rezeption!« Sie lächelte Rebecca beruhigend an. »Jetzt müssen wir einfach nur ein paar Minuten warten, und dann wird er schon auftauchen. Da bin ich mir ganz sicher.«
Rebecca war sich da überhaupt nicht sicher und kehrte in ihre Kabine zurück.
Sie wartete eine Viertelstunde. Dann ging sie wieder zu der blonden Dame am Empfang.
»Er ist nicht gekommen«, sagte sie schlicht. »Ich habe es Ihnen ja bereits gesagt: Er ist verschwunden.«
Die Blondine starrte sie an, als spräche sie Chinesisch.
»Seit wann vermissen Sie denn Ihren Mann?«
»Eigentlich seit gestern Abend. Ich bin nach dem Essen sehr früh ins Bett gegangen und habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass er abends im Alten Fritz gern noch etwas trinkt. Normalerweise geht er dann so um Mitternacht schlafen. Ob er ins Bett gekommen ist, weiß ich nicht.«
»Und Sie haben ihn überall gesucht?«
»Natürlich. In den Bars, am Pool, im Wellnessbereich, in der Bibliothek, auf den verschiedenen Decks – mein Mann ist nicht mehr da! Außerdem würde er mir immer Bescheid sagen, wenn er irgendwo hingeht. Ich hab ihm auch eine Nachricht in der Kabine
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