Nachtprinzessin
nicht mehr da sein würde, noch nicht fassen.
»Nun hab ich hier jede Menge Ärger an der Backe. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Leiche von Barbados aus so schnell wie möglich nach Deutschland überführen kann. Das wird einen fürchterlichen bürokratischen Irrsinn nach sich ziehen. Oder aber Oma unterliegt der Hoheit des Schiffes und wird mit ihren Papieren einfach nach Frankfurt geflogen, wie jeder lebendige Passagier auch. Ich hab keine Ahnung, Alex, aber ich kann dir sagen, so froh ich bin, dass sie so einen schmerzfreien, leichten und glücklichen Tod hatte, es wäre besser gewesen, sie hätte mit dem Sterben noch ein paar Tage gewartet, bis wir wieder in Deutschland gewesen wären. Hoffentlich bekomme ich überhaupt meinen geplanten Flieger nach Frankfurt und muss nicht noch ein paar Tage hier in der Karibik verlängern.«
»Du Armer! Das wäre ja ein fürchterlicher Schicksalsschlag für dich!«
Matthias überhörte den süffisanten Ton. So etwas war er von Alex gewohnt. Problematisch wurde es erst, wenn man darauf einging. Dann war der Streit vorprogrammiert.
»Bitte, sag deiner Mutter Bescheid, und besorg dir einen vernünftigen schwarzen Anzug. Du kannst auf keinen Fall in Jeans und Schlabberpullover zur Beerdigung kommen.«
Zum zweiten Mal verschlug es Alex die Sprache. Wenn Matthias weiter keine Sorgen hatte, dann war es ja gut.
Wie so oft sagte er nichts dazu und legte einfach auf.
Noch eine halbe Stunde, dann musste er los. Heute hatte er Schicht ab zwölf, und vor vierundzwanzig Uhr würde er den Laden sicher nicht wieder verlassen. Er quälte sich von seiner Matratze und ging unter die Dusche. Dort trank er wie jeden Morgen ein paar Schluck Duschwasser, mehr frühstückte er nie.
Er rubbelte sich die Haare trocken, zog sich an und zündete sich eine Zigarette an. Die erste des Tages schmeckte ihm nie. Er hustete mehr, als dass er rauchte, als empörte und wehrte sich seine Lunge gegen das, was ihr da tagtäglich angetan und zugemutet wurde. Aber er konnte es nicht ändern. Alkohol und Zigaretten waren das Einzige, wofür es sich noch zu leben lohnte.
Aber heute war alles anders. Oma war tot.
Er hatte es kommen sehen, hatte oft daran gedacht, dass es passieren könnte, aber dann hatte er den Gedanken immer wieder erfolgreich verdrängt.
Jetzt wurde ihm bewusst, dass er Oma Henriette nur selten besucht hatte, aber wenn, dann war er gern bei der alten Dame gewesen. Sie war stets perfekt frisiert, geschminkt und gekleidet, ihre Wohnung war immer tadellos sauber und aufgeräumt, und wenn sie ihm Tee und Gebäck servierte und ihn fragte: »Nun, mein Junge, dann erzähl doch mal, was gibt es denn Neues?«, dann hatte er gern geredet und die wenigen Stunden mit ihr wirklich genossen.
Sie war eine Dame, sprach leise und in gewählter Ausdrucksweise, und nach jeder Mahlzeit rauchte sie eine Zigarette mit Spitze. Schon als Kind konnte er sich nicht sattsehen daran, wie ihre Ringe an den schmalen, langen Fingern funkelten. Als er älter wurde und selber rauchte, schob sie ihm wortlos den Aschenbecher hin, und er wusste, dass sie darauf hoffte und irgendwie auch erwartete, dass er nur wenig rauchte. Aber sie sagte nichts, stellte nie Ansprüche. Sagte auch nie »Komm, hilf mir mal« oder »Kannst du mal dies oder das für mich besorgen«. Sie saß da, legte die Hände übereinander in den Schoß und hörte ihm zu. Ganz gleich, ob er eine schlechte Zensur aus der Schule mit nach Hause gebracht hatte oder von dem Krieg in den First-Class-Küchen dieser Welt erzählte. Und sie sagte ihm ihre Meinung. Sanft, aber klipp und klar.
»Der Kochberuf ist nichts für dich, mein Junge«, hatte sie ihm schon vor ein paar Jahren erklärt. »Die Arbeit und vor allem das Umfeld und deine Kollegen sind primitiv, dumpf, ordinär und gewalttätig. Ich habe das Gefühl, die Küchen sind das Sammelbecken des Abschaums, der Asozialen und der Verlierer. Hör auf damit. Geh da weg. Lerne etwas anderes. Lass dich nicht verrohen, und rette dich, solange du noch kannst. Du gehörst da nicht hin.«
»Das ist doch Quatsch, Oma. Und ich koche gern.«
»Vielleicht. Das mag sein. Aber du hast gar keine Chance, etwas Gutes zu kochen. Kreativ zu sein. Etwas Schönes, Wohlschmeckendes, Neues geschehen zu lassen. Du ackerst auf Befehl. Du schickst im Akkord. Du bist sechzehn Stunden am Tag im Dauerstress. Du knallst die Steaks in die Pfanne, du haust die Scheiße in den Topf, wie du so schön sagst, Lebensmittel sind für dich
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