Nachtprinzessin
die Arme. »Meine Hübsche«, hatte sie gesagt, »meine Süße, mein Püppchen, meine allerliebste, zauberhafte, entzückende Prinzessin!«
Matthias betrachtete seine Mutter.
»War ich eine Enttäuschung für dich, Mama? Hättest du nicht viel lieber ein Mädchen gehabt, um es nicht nur im Fasching, sondern jeden Tag in bunte Kleidchen zu stecken? Solange ich in der Grundschule war, musste ich mich beim Karneval als Prinzessin verkleiden. Und wenn ich es ertrug, hast du mich hinterher mit Liebe und Geschenken überhäuft. Diesen einen Tag im Jahr war ich so, wie du mich eigentlich haben wolltest. Dein Püppchen. Deine Prinzessin.«
Er lächelte.
»Das willst du alles nicht hören, stimmt’s? Aber keine Sorge, ich bin dir nicht böse. Überhaupt nicht. Ich hatte mich ja schon fast daran gewöhnt, denn von da an hast du mich immer öfter Prinzessin genannt. Einfach so. Prinzessin, komm mal runter, und bring mir aus dem Schlafzimmer die warme Jacke mit! Bist du mit den Schularbeiten fertig, Prinzessin?
Du hast es wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass ich schon bald nicht mehr Matthias, sondern Prinzessin war. Und weißt du, was das Komische daran ist, Mama?« Er lachte. »Ich bin wahrhaftig die Prinzessin geworden, die du dir immer gewünscht hast.«
Matthias faltete die Hände und schwieg eine Weile. Dann redete er leise weiter. »Ich glaube, so wie es ist, ist es in Ordnung. Ich bin zufrieden, Mama, und insofern kann ich dir keinen Vorwurf machen. Ich weiß, du hast es immer nur gut gemeint. Ich sehe es noch genau vor mir: Draußen schüttete es, unsere Einfahrt vor dem Haus war matschig und völlig aufgeweicht, meine Schuhe waren dreckig und lehmverkrustet, als ich aus der Schule nach Hause kam, aber verprügelt hast du mich trotzdem. Vielleicht wüsste ich heute schöne, saubere Dinge nicht so zu schätzen, wenn du es damals anders gemacht hättest. Nein, ich nehme dir nichts übel.
Übel nehme ich dir, dass du jetzt nicht mit mir redest, nicht zu mir zurückkommst, Mama.« Matthias starrte sie an. Ihre geschlossenen Lider flatterten, und ihre Lippen waren so schmal wie der Rand eines Euros.
»Ich brauch dich doch, Mama«, flüsterte er, und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Ich brauch dich so sehr.«
Matthias wartete mehrere Minuten.
»Warum hast du mich verlassen? Warum bist du nicht mehr hier, bei mir? War es nicht schön? War diese Reise nicht immer dein größter Wunsch? Ich schwöre, ich würde dich bis zum Grabe pflegen, aber so bist du nicht mehr meine Mutter!«
Er küsste sie auf den Mund und hauchte ein kaum hörbares »Ich liebe dich, Mama«, nahm ein Kissen und drückte es ihr aufs Gesicht.
Sie war nicht fähig, sich zu wehren.
Matthias drückte mit aller Kraft und lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr.
Kein Laut war unter dem Kissen zu hören, aber er drückte dennoch weiter.
Erst nach mehreren Minuten ließ er los und stand auf. Sein Herz hämmerte, er war flammend rot, schwitzte, und seine Muskeln zitterten.
Vorsichtig zog er das Kissen von ihrem Gesicht.
Sie atmete nicht mehr. Ganz ruhig lag sie da, wie eine bleiche Porzellanpuppe. Zerbrechlich, kostbar und auf ihre Art einzigartig.
Er strich ihr die Haare aus der Stirn, ordnete das Bettzeug und sah sich noch einmal aufmerksam im Zimmer um. Dann wandte er sich zum Gehen.
»Ciao, Mama!«, sagte er und schloss hinter sich die Tür.
63
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Berlin, Ende September 2009
»Hör zu, ich kann nicht lange reden, wir sind immer noch auf dem Atlantik und erreichen erst morgen früh Barbados, die Telefoniererei kostet vom Schiff aus ein Vermögen, ich wollte dir nur sagen, Oma ist tot.« Jetzt erst machte sein Vater eine bedeutungsschwere Pause.
Alex schluckte. Ihm war, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen, aber gleichzeitig spürte er, wie der Zorn in ihm hochstieg. Selbst bei so einem Telefonat war es für seinen Vater anscheinend das Allerwichtigste, wie hoch die Telefonkosten werden würden, wenn man auch nur ein überflüssiges Wort sagte. Es war so erbärmlich, so kleinlich und so knauserig, dass einem übel werden konnte.
Er sagte nichts, sondern wartete ab. Wollte das Telefonat nicht unnötig verlängern und auch kein heiliges Donnerwetter provozieren.
»Sie hatte heute Morgen wieder einen schweren Schlaganfall und ist unmittelbar danach ganz friedlich eingeschlafen. Ich war in ihren letzten Minuten bei ihr und hab ihr die Hand gehalten.«
»Und nun?«, fragte Alex tonlos. Er konnte den Gedanken, dass Oma
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