Nachtprinzessin
ist denn?«, rief er genervt, da er eigentlich noch eine Stunde schlafen wollte.
»Mutter geht nicht gut«, schluchzte Tatjana.
Matthias war sofort alarmiert. »Ich komme!«, brüllte er. »In fünf Minuten bin ich da.«
Als er in ihre Kabine kam, lag Henriette vollkommen unbeweglich mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Die linke Hälfte ihres Mundes hing schlaff herunter und gab ihr ein groteskes Aussehen.
»Mama, was ist los mit dir?«, fragte Matthias und schüttelte sie leicht an der Schulter.
Sie reagierte überhaupt nicht.
Tatjana stand an der Tür und hatte sich ein Taschentuch vors Gesicht gedrückt.
Matthias zog Henriettes Lider hoch. Ihre Augäpfel zuckten unkontrolliert. Er versuchte, sie mit einer schnellen Handbewegung zu erschrecken, aber auch darauf gab es keine Reaktion.
»Mama, bitte, bewege mal deine Finger!«
Nichts passierte.
Ein neuer Schlaganfall, dachte Matthias, verdammt noch mal, sie hat noch einen bekommen und kann sich nicht mehr bewegen. Und nicht sehen. Und sprechen wahrscheinlich auch nicht.
Er drehte sich zu Tatjana um.
»Erzähl mir, was passiert ist.«
»Ich heute Morgen wollte ihr wecken und waschen, aber ging nicht. Konnte nicht bewegen, nicht reden. War wie tot!« Tatjana brach in Tränen aus, was Matthias völlig übertrieben und unangemessen fand. Wenn hier jemand Grund hatte zu weinen, dann er, aber nicht eine hergelaufene russische Pflegerin, die Henriette gerade mal eine Woche kannte.
»Geh in deine Kabine und beruhige dich«, sagte er unwillig zu ihr. »Sie braucht jetzt Ruhe. Ich werde bei ihr bleiben und den Schiffsarzt rufen.«
Tatjana nickte und schlich hinaus, als hätte sie etwas verbrochen.
Eine Weile stand Matthias vor seiner Mutter und sah sie nur an. Dann beugte er sich über sie. »Mama, ich bin’s! Deine Prinzessin! Bitte, Mama, gib mir ein Zeichen, dass du noch nicht tot bist. Dass du mich liebst und dass du weiterleben willst.«
Er wartete ab.
Seine Mutter reagierte nicht. Nicht einmal ein Wimpernschlag verriet, dass noch ein Funken Leben oder Verstehen in ihr war. Er setzte sich zu ihr.
»Wach auf, Mama, ich bin’s, deine Prinzessin!«, wiederholte er.
Matthias glaubte, einen leisen Seufzer gehört zu haben. Aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht.
»Bitte, sieh mich an! Ein letztes Mal!«
Nichts geschah.
»Weißt du noch, Mama, ich muss so sieben oder acht gewesen sein, da war wie jedes Jahr Kinderfasching in der Schule. Ich wollte unbedingt als Cowboy gehen, um auch mal eine Pistole am Gürtel tragen zu können. Alle Jungs in meiner Klasse hatten Pistolen und Gewehre zu Hause und Panzer und Kanonen. Nur ich nicht. Du hattest es mir verboten. Um meinen Charakter nicht zu verderben. Noch nicht einmal eine Wasserpistole durfte ich haben. Es wäre so schön gewesen, in der Badewanne damit herumzuspielen oder die Nachbarskatze nass zu spritzen. Kannst du dich noch erinnern, wie sie hieß? Minka, glaube ich, oder Tinka? Oder war das schon die neue Katze der Breitbachs, die das Haus von den Wesels gekauft hatten? Ich weiß es nicht mehr, ist ja auch nicht so wichtig.
Jedenfalls war es mein sehnlichster Wunsch, als Cowboy zu gehen, aber du hattest andere Pläne, Mama, weißt du das noch? Du hast glänzende rosa Faschingsseide und weiße Spitze gekauft und mir ein langes, rüschiges rosa Kleid genäht. Dazu trug ich ein kleines Krönchen, das man wie einen Reif aufsetzen konnte. Dann hast du mir die Lippen rosa geschminkt, und fertig war deine kleine, süße Prinzessin. Mit deinen viel zu großen Stöckelschuhen musste ich dann in die Schule stolpern. Ich habe mich so geschämt, Mama. So unglaublich geschämt. Kannst du dir das vorstellen?«
Matthias erinnerte sich noch, dass er weinend in die Klasse gerannt kam, barfuß, mit den Stöckelschuhen in der Hand. Es war Februar, und er hatte eiskalte Füße. Als Erstes zog er sich Turnschuhe an, seinen Turnbeutel hatte er zum Glück unter der Bank. Und dann stand er völlig verloren in der Klasse herum, zwischen Indianern und Cowboys, Bären, Katzen, Hexen, Supermännern, Vampiren und undefinierbaren Fantasiegestalten. Außer ihm gab es keine einzige weitere Prinzessin. Noch nicht einmal ein Mädchen hatte sich so verkleidet.
Ganz still hockte er sich auf seinen Platz, stopfte das Krönchen in die Tasche und zählte die Stunden und Minuten, bis der Spuk und das Faschingsfest vorbei waren und er wieder nach Hause laufen und sich umziehen konnte.
Henriette schloss ihn an der Haustür in
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