Nachtprogramm
Babys erster Wirbelsturm. Von der Mutter festgehalten, schaut sie am windgepeitschten Strandhafer vorbei auf den tiefschwarzen Himmel, ihr Gesicht ahnungsvoll und besorgt in Falten gelegt, wie man es bei keinem der beiden Eltern je beobachtet hat. Der vierte Juli, Halloween, Thanksgiving: Für sie sind das Tage wie jeder andere, aber Paul und Kathy beharren mit ihrer von Elternstolz vernebelten Logik darauf, dass sie ganz genau weiß, worum es geht, und genauso aufgeregt ist wie sie.
An Babys erstem Wintertag sah Madelyn zuerst das Weihnachtsm ärchen auf Video und durfte dann miterleben, wie mein Bruder sich als viktorianischer Gentleman verkleidete und ein Paar Backenbartkoteletten anlegte. Er benutzte dazu keine Schminke, sondern legte sich einfach zwei rohe Streifen Schinkenspeck aufs Kinn, die durch das Wunder von Fett auf Menschenfleisch ein paar Minuten kleben blieben. Danach schnappte Paul sich eine Leiter und behängte die Vorderfront seines Hauses mit Lichterketten. Auch die hielten nur wenig länger als der Bart und landeten in den Büschen, kaum dass die Fotos gemacht waren. Natürlich wusste die Kleine längst, was der Weihnachtsmann bringen würde. Mein Bruder hatte die Ge schenke gleich nach dem Einkauf vor ihr ausgebreitet: Babys erstes Pop-Up-Buch. Babys erste Sprechpuppe. Unter den Geschenken war auch ein elektronisches Lernspielzeug, das sich Alphabettrainer nannte. Drückt man beispielsweise den Buchstaben D, sagt der Apparat laut den Buchstaben. Drückt man D, dann A und wieder D, verbindet das Gerät die Buchstaben zu einer quäkenden Lautfolge. »Duu-Aah-Duu.« Es klingt wie ein künstli cher Stimmapparat und ist viel zu kompliziert für ein Kind in Madelyns Alter. Sie interessierte sich nicht die Bohne dafür, doch bis Weihnachten hatte mein Bruder sich damit angefreundet. Er hat sich in den Kopf gesetzt, ihm das Fluchen beizubringen, aber der Alphabettrainer ist schlau und anständig und hatte schnell raus, was Paul mit ihm vorhatte. M-o-t-h-e-r ist kein Problem, doch will man f-u-c-k-e-r anhängen, fängt das Gerät nach dem ersten Buchstaben an zu kichern und ermahnt einen mit einer klar verständ lichen Klein-Mädchen-Stimme- »Ha ha ha ha. Du Schlingel!«. »Ich krieg den Kasten noch nicht mal dazu, Dick zu sagen«, sagt er. »Dabei ist das bloß ein verdammter Vorname.«
Wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit braucht meine Schwägerin nachts ihren Schlaf, und es ist Pauls Aufgabe, um zwei und um drei und um fünf, wenn Madelyn wach wird, sie zu füttern, zu windeln oder durch die Wohnung zu tragen, bis sie sich wieder beruhigt hat. Meine Schwestern haben sich angewöhnt, vor dem Schlafengehen ihr Telefon auszustöpseln, sodass er bei mir anruft und seiner Tochter den Hörer hinhält. Monatelang hörte ich am Telefon nur ihr Weinen, doch dann wurde sie älter und lernte zu lachen, zu glucksen oder jenes zufriedene Babyseufzen von sich zu ge ben, das mich verstehen lässt, warum jemand – erst recht mein Bruder – ein Kind in diese verlotterte Welt setzt.
»Sie wird sich früher oder später gegen ihn auflehnen«, sagt mein Vater. »Wart nur. In ein paar Jahren will Madelyn nichts mehr mit ihm zu tun ha ben.«
Ich blicke in die Zukunft und sehe das Gesicht meines Bruders, es ist das unvorteilhaft gealterte Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren. Seine Tochter hat alle seine Werte verworfen, jetzt steht sie bei der Diplomfeier als Abschlussrednerin auf dem Podium einer bekannten Universität, im Begriff ihre Abschlussrede zu halten. Was wird sie von ihrem Vater denken, der im Mittelgang steht, ein wildes Geheul ausstößt und sein T-Shirt hochzieht, um die schwabbelige Botschaft zu enthüllen, die auf seinen nackten Bauch gemalt ist? Wird sie sich abwenden, wie mein Vater es vorhersagt, oder wird sie sich an all die Nächte erinnern, in denen sie aufwach te und ihn schlafend an ihren Füßen entdeckte, dieses Schwein, diesen Klotz, dieses dummes Zeug plappernde Spielzeug.
Er glaubt, ihre ersten Worte werden »Ich liebe dich!« sein, doch wenn Kinder durch Wiederholung lernen, würde ich auf »Wer will mit aufs Foto?«, »Du Schlingel!« oder »Sieht so aus, als ob hier alle schlafen« tippen, Sätze, die ebenfalls »Ich liebe dich« sagen, nur auf originellere Weise.
Nuit der lebenden Toten
Ich war vorne auf der Veranda und ertränkte gerade eine Maus in einem Eimer, als ein Kombi vor dem Haus hielt, was ungewöhnlich war. An einem normalen Tag fahren vielleicht fünfzehn Autos am
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