Nachtprogramm
einer Glasscheibe ausgeschnittenes Schiff.«
Keiner sagte etwas.
»Versteht ihr?«, sagte ich. »Ein durchsichtiges Schiff. Wir nennen unser Haus ›Klar Schiff‹.«
»Na, das musst du aber darunter schreiben«, sagte mein Vater. »Sonst versteht es keiner.«
»Aber wenn man es hinschreibt, ist der ganze Witz futsch.«
»Wie wär’s mit ›Klapsmühle‹?«, sagte Amy.
»Hey!«, sagte mein Vater. »Das klingt gut.« Er lachte, schien aber vergessen zu haben, dass es bereits eine ›Klapsmühle‹ gab. Wir waren schon tausendmal dran vorbeigefahren.
»Was haltet ihr davon, wenn wir was mit ›Strandläufer‹ nehmen?«, sagte meine Mutter. »Strandläufer mögen alle, oder?«
Normalerweise wäre ich stinksauer gewesen, weil mein Vorschlag sich nicht durchgesetzt hatte, aber dies war zweifellos eine besondere Situation, und ich wollte mir nicht durch Schmollen die gute Laune verderben. Jeder von uns wollte der Namensgeber sein, und Anregungen gab es überall. Nachdem wir das Wageninnere durchhatten, spähten wir aus dem Fenster auf die vorbeieilende Landschaft.
Zwei dünne Mädchen warteten am Straßenrand auf eine Lücke im Ver kehr und hopsten auf dem heißen Asphalt von einem Fuß auf den anderen. »›Die Teersohle‹«, rief Lisa. »Nein, ›Haus Immer Meer‹. Versteht ihr? M-E-E-R.«
Ein Wagen mit Bootsanhänger hielt an einer Shell-Tankstelle. »›Die Goldene Muschel‹«, rief Gretchen.
Überall entdeckten wir Namen, und die lange Liste an Vorschlägen zeig te auf eklatante Weise, dass Emerald Isle wenig an Naturschönheiten aufzubieten hatte, sobald man sich von der Küste fortbewegte. »›Die Fernsehantenne«, sagte meine Schwester Tiffany. »Der Telefonmast.« »Der zahnlose Schwarze, der aus seinem Kleinlaster heraus Shrimps verkauft.«
»Der Betonmischer«, »Der umgekippte Einkaufswagen«, »Möwen auf einer Mülltonne«. Meine Mutter inspirierte uns zu »Aus dem Fenster geworfene Zigarettenkippe« und schlug anschließend vor, wir sollten lieber am Strand statt unterwegs auf der Landstraße nach Namen suchen. »Ich meine, mein Gott, geht es noch ein bisschen deprimierender?« Sie tat so, als wäre sie eingeschnappt, aber wir spürten, dass sie sich köstlich amüsier te. »Schlagt was vor, das zu uns passt«, sagte sie. »Etwas, das bleibt.«
Was zuletzt blieb, waren jene fünfzehn Minuten auf der Küstenstraße, aber das wussten wir damals nicht. In späteren Jahren dienten sie selbst dem größten Miesepeter In der Familie als Beweis, dass wir einmal eine glückliche Familie gewesen waren: unsere Mutter, jung und gesund, unser Vater, der bloß mit dem Finger zu schnippen brauchte, um unsere sämtlichen Wünsche zu erfüllen, und wir Kinder, alle ganz wild darauf, unserem Glück einen Namen zu geben.
Das Haus war, wie unsere Eltern versprochen hatten, perfekt. Es war ein älteres Cottage mit Kiefernholzverkleidung, das jedem Raum den heimeligen Charakter einer Höhle verlieh. Das Licht fiel in Streifen durch die geöffneten Jalousien, und das Mobiliar, das im Preis mit enthalten war, entsprach dem Geschmack eines altgedienten Kapitäns auf See. Nachdem wir die Zimmer verteilt und alle eine schlaflose Nacht damit verbracht hatten, im Geist die Möbel hin- und herzuschieben, mahnte unser Vater: »Nichts überstürzen, noch gehört es uns nicht.« Bis zum nächsten Nachmittag hatte er entschieden, der Golfplatz sei doch nicht so berauschend. Danach regnete es zwei volle Tage, und er verkündete, es wäre womöglich klüger, erst einmal ein Grundstück zu kaufen, ein paar Jahre zu warten und dann selbst zu bauen. »Ich meine, wir müssen das ganz praktisch angehen.« Meine Mutter zog ihre Regenjacke an. Dann band sie sich eine Plastiktüte um den Kopf und ging hinunter ans Wasser, und zum ersten Mal im Leben wussten wir ganz genau, was sie dachte.
Am letzten Tag der Ferien hatte unser Vater beschlossen, dass wir, an statt ein Haus auf Emerald Isle zu bauen, unser bestehendes Haus ausbauen sollten. »Vielleicht einen Pool im Garten«, sagte er. »Was haltet ihr Kinder davon?« Niemand antwortete.
Zuletzt hatte er die Sache so weit herunter geredet, dass von dem Haus am Strand eine Bar im Keller übrig blieb. Sie sah aus wie eine richtige Bar, mit hohen Stühlen und Fächern für die Weinflaschen. Es gab eine Spüle zum Reinigen der Gläser und ein Set bedruckter Servietten, das die weniger schlimmen Seiten des Alkoholismus unterstrich. Eine oder zwei Wochen lang torkelten meine
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