Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
1.
Obgleich die ersten Septemberstürme schon ihre Vorboten geschickt hatten, war dieser Spätsommertag warm, und es wehte nur ein schwacher Wind. Alexandra hielt den Kopf weit aus dem Fenster des fahrenden Zuges und atmete tief den Duft von frischen Strohballen und Kuhdung ein. Stroh war das, woran sie sich am meisten aus ihrer Kindheit erinnerte. Harte Stoppeln, die sich schmerzhaft in ihre nackten Fußsohlen bohrten und schon nach kurzer Zeit blutige Knöchel hervorriefen. Das Ende des Sommers, jedes Jahr aufs Neue schmerzlich empfunden, bedeutete auch, dass die unbeschwerte Zeit der Ferien endgültig vorbei war. Sie hatte es gehasst, den geliebten Abenteuerspielplatz gegen die harte Schulbank einzutauschen, und war demonstrativ kurz nach ihrer Rückkehr in die Stadt erkrankt. Der Traum ihrer Kindheit, die ländliche Idylle irgendwann einmal nicht mehr verlassen zu müssen, würde nun endlich in Erfüllung gehen. Zudem hatte ihr Professor Lenning schon oft ans Herz gelegt, ihr städtisches Dasein gegen ein gesundes Landleben einzutauschen, nicht nur, weil es ihrer angeschlagenen Gesundheit zuträglich sein würde, sondern auch das künstlerische Schaffen positiv beeinflussen könnte. Einundsechzig Kilo waren aus ärztlicher Sicht einfach zu wenig für eine Größe von ein Meter achtundsiebzig. Alexandra war also nicht nur schlank, sondern fast hager. Sie vermied es allerdings, Ärzten gegenüber zu sagen, dass sie sich so, wie sie war, durchaus mochte. Der morgendliche Blick in den Spiegel ließ sie nicht, wie so manche Frau, verzweifeln, sondern gab den Männern mit ihren Komplimenten recht. Ihr Teint war nicht der üblichblasse, den viele Rothaarige beklagten, die grünen Augen schimmerten geheimnisvoll, und die Lippen waren nicht allzu schmal. Einzig ihre Nase mochte Alexandra nicht sonderlich. Der leichte Schwung nach oben ließ sie etwas vorwitzig erscheinen. Im Grunde ein Allerweltsgesicht, nicht übermäßig schön, dafür aber ausdrucksstark.
Der Reisezug hatte inzwischen sein Tempo gedrosselt und zuckelte nun gemächlich dem nächsten regionalen Bahnhof entgegen.
Wenn sie die Augen ein wenig zusammenkniff, verschwammen die Farben der Landschaft in einem Meer aus Gelb und Rot, und in ihrem Kopf entstand das Bild ihrer neuen Heimat. Sie würde nach ihrer Ankunft die letzten Sonnenstrahlen nutzen, um es zu Papier zu bringen, bevor die Erinnerung verblich. Fast zärtlich strich sie mit der Hand über den ledernen Beutel, der ihre besten Pinsel beherbergte und den sie fast ständig bei sich trug. Schon oft war sie danach gefragt worden, warum sie Pinsel dabeihatte, wo sie doch weder Papier noch Farben mit sich herumschleppte. Schulterzuckend musste sie immer eingestehen, dass sie es nicht wusste. Es war wie ein Zwang, sie konnte auf den ledernen Beutel einfach nicht verzichten. Sogar in der eigenen Wohnung trug sie ihn manchmal bei sich. Mit einem Ruck zog Alexandra das Fenster zu, ordnete, als sie den amüsierten Blick ihres Sitznachbarn sah, ihre zerzausten roten Haare und schlang sie zu einem Knoten im Nacken. Dann ließ sie sich auf den Sitz fallen, stopfte ihre Jacke zwischen Kopf und Fenster und schloss die Augen. Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück.
Fünf Jahre waren vergangen, seit Marcel sie das erste Mal gebeten hatte, seine Frau zu werden. Da kannten sie sich gerade mal ein halbes Jahr. Sie hatte nein gesagt.
Alexandra musste zugeben, dass der Mann, der vom ersten Tag an so unverhohlen sein Interesse an ihr gezeigt hatte, alles andere als langweilig war. Das nämlich war zum damaligenZeitpunkt nach ihrer Erfahrung die größte Schwachstelle der Männer. Marcel hingegen hatte es binnen kurzer Zeit geschafft, mit Charme, Humor und außergewöhnlichen Einfällen nicht nur ihre Gunst, sondern auch die ihrer besten Freundin Nina zu erobern. Und das sollte etwas heißen. Diese war mit knapp fünfzig und nach etlichen gescheiterten Beziehungen zu der festen Überzeugung gelangt, dass Männer einfach das Allerletzte seien. Alexandra hatte also ihrer Meinung nach wenig Aussichten, noch einen halbwegs passablen Mann abzubekommen. Missmutig hatte Alexandra der Freundin immer recht gegeben. Bis zu jenem Tag, als die Kette ihres Fahrrades, weit entfernt von jeglicher Zivilisation und etwaigen Reparaturläden, lautstark riss. Alexandra hatte ihr Fahrrad in den Straßengraben fallen lassen und war einfach daneben sitzen geblieben. Nach einer halben Stunde hielt ein Auto, und nur fünfzig
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