Nachts unter der steinernen Bruecke
mitunter hinter der >Blindheit< Kaiser Rudolfs verborgen ist, geht aus der Novelle »Der Heinrich aus der Hölle« hervor, in der der Kaiser als einziger im feierlichen »Aufzug eines kaiserlich-marokkanischen Gesandten« seinen einstigen diebischen Futterknecht Heinrich Twaroch wiedererkennt. Das ganze irdische Unglück des mit Glücklosigkeit geschlagenen Berl Landfahrer schließlich wäre auf einen Schlag behoben, wenn Meisls »Pudelhund« ihn zu erkennen und zu dem Geld zu führen vermocht hätte, das Meisl für ihn vergraben hat.
Eine leitmotivische Funktion besitzt der Traum im Roman. Dem im Duell besiegten und von seinem Kontrahenten, Baron Juranic, zum Tanz gezwungenen Grafen Collalto erscheint es in der Novelle »Sarabande« »plötzlich, als ob dies alles, die Stimme des Barons, das Plätschern der Fontäne, die Degenspitze an seiner Brust und die Musik, die jetzt ganz aus der Nähe erklang, nur ein schwerer Traum wäre«. Um sein Leben tanzend muß der Graf erfahren, daß er sich in der Wirklichkeit befindet.
Rudolf II. berichtet seinen Räten in der Novelle »Der Heinrich aus der Hölle« von einem Traum, den er in drei aufeinander folgenden Nächten hatte und in dem ihm drei Teufelsboten in Gestalt einer Krähe, eines Kuckucks und einer Hummel prophezeiten, er werde, wenn er dem Christenglauben nicht abschwöre, seinen »geheimen Schatz« einbüßen und die Kaiserkrone an den Bruder Matthias verlieren: »Und unter des Frevlers Herrschaft werde der Krieg kommen in allen Ländern vom Aufgang bis zum Niedergang, mit Verfinsterung des Mondes und der Sonne, mit vielen feurigen und blutigen Zeichen am Himmel und auf der Erde, mit Rebellion, Blutvergießen, fallenden Seuchen und Hungersnot.« Den kaiserlichen Räten gelingt es, Rudolf davon zu überzeugen, daß sein Traum nur »Teufelstrug und Teufelsgespinst« gewesen sei — aber die im Traum enthaltene Prophezeiung wird Wirklichkeit.
Zum Thema wird das Traum-Motiv in der Kern-Novelle »Nachts unter der steinernen Brücke«, in der Perutz auf eine hintergründige ironische Weise mit der Verkehrung von Traum und Wirklichkeit spielt. Im Traum erinnert sich Rudolf seines ersten Beisammenseins mit Esther, und es ist ihm »wie ein Wunder oder wie ein Traum«. Seiner Geliebten hingegen erscheint die Wirklichkeit ihres Tages als traumhaft: »Ich geh' durch ihn wie durch einen Nebel, ich find' mich nicht zurecht, er ist nicht wirklich, er ist Trug. Phantome rufen mich an, ich höre mich sprechen und weiß nicht, was ich sag'. Dann vergeht der Tag, wie ein Spuk zerstiebt, wie Rauch verweht, und ich bin bei dir. Du allein bist Wirklichkeit.« Wenngleich der Rudolf ihres Traums keine Wirklichkeit besitzt, weiß Esther doch im Traum von der »Sünde Moabs«, die sie Nacht für Nacht begeht; am Tag indes beruhigt sie sich bei dem Gedanken, daß alles »ein schöner Traum, aber, gelobt sei der Schöpfer, doch nur ein Traum« ist. Die innere Logik des Romans enthüllt mit sublimer Ironie, daß Esther im Traum eine wirklichkeitsgerechtere Einsicht in ihre Schuld besitzt als in der Wirklichkeit.
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Wie in allen seinen historischen Romanen geht Perutz auch in Nachts unter der steinernen Brücke mit der historischen Realität sehr frei um. Quellenstudien für den Roman hatte er 1924 vor der Niederschrift der ersten Novelle, »Die Pest in der Judenstadt«, betrieben, in Palästina standen ihm Quellen, wie er seinem Bruder im Oktober 1943 schrieb, nicht zur Verfügung: »Ich habe hier für >Meisls Gut< keine anderen benutzbaren Quellen als meine Jugenderinnerungen, die aber, je älter ich werde, desto reichlicher strömen und mir immer neuen Stoff geben, und wenn sie nicht ganz getreu sind, so kommt das den Geschichten nur zugute.«
Es ist faszinierend zu beobachten, wie Perutz historische Fakten, jüdische Legenden und volksläufige Sagen in seinem Roman teils nach den Quellen, teils in freier Umgestaltung verarbeitet. Alle Figuren im Vordergrund der Romanhandlung sind historische Gestalten, um die sich freilich schon zu Lebzeiten oder bald nach ihrem Tod ein Kranz von Legenden zu ranken begann: Kaiser Rudolf II., Rabbi Loew, Mordechai Meisl, die Kaiserlichen Räte, Wallenstein, Kepler und viele andere. Eine im Jahre 1592 verbürgte Begegnung zwischen Rudolf II. und Rabbi Loew nahm Perutz vermutlich zum Ausgangspunkt der Fabel des Romans; der 1592 ausgestellte, 1598 erneuerte Majestätsbrief Rudolfs II. für Mordechai Meisl ist historisch ebenso überliefert wie die
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