Nachts unter der steinernen Bruecke
vermögen, das dem Wesen der erinnerten Person oder des erinnerten Gegenstandes entspricht.
Mordechai Meisl vermag sein »Täubchen« auf dem Bild wiederzuerkennen, aber er besaß kurz zuvor nicht einmal eine genaue visuelle Erinnerung des Antlitzes seiner Frau, und in seinem Herzen überwiegt, als er die Verbindung Rudolfs zu Esther entdeckt zu haben glaubt, die Rache der Trauer. Der Kaiser hingegen reagiert auf den Verlust seiner Geliebten mit einer geradezu manischen Liebe zur Kunst, als wolle er den Verlust des Rildes von Esther durch den Besitz bedeutender Bilder kompensieren.
Der Maler Brabanzio schließlich, der nach Rudolfs Urteil »hinter keinem der italienischen oder der niederländischen Meister seiner Zeit zurückstand«, findet für seine Rilder keine Anerkennung. Mit dem von Meisl erhaltenen Honorar begibt er sich, wie der Erzähler am Ende der Novelle berichtet, »nach Venedig, wo irgendeine Pestilenz ihn erwartete, an der er starb. Und nur ein einziges Bild ist erhalten geblieben, das das Signum >Brabanzio fecit< trägt. Es hängt in einer kleinen Privatgalerie in Mailand und stellt einen Mann dar, der in einer Hafenkneipe sitzt, vielleicht ihn selbst, und zwei alte häßliche Weiber drängen sich an ihn heran, um ihn zu umarmen, und die eine ist, denk' ich mir, die Pestilenz, und die andere, grau wie ein Leichentuch, ist die Vergessenheit.« Das Erinnerungsbild des Malers Brabanzio verweist auf das Bild Prags, das Leo Perutz in seinem Boman Nachts unter der steinernen Brücke zeichnet, der mit der »Pest in der Judenstadt« anhebt und »Meisls Gut« im »Epilog« in einer dichten »Wolke« von rötlichgrauem Staub« verschwinden läßt. Die Kunst der Erinnerung ist eingerahmt von Pestilenz und Vergessenheit, sie erzählt von ihnen und fällt dem Vergessen anheim.
In der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts war Leo Perutz sicher einer der konsequentesten Anhänger der Auffassung von der Autonomie der Kunst. Sein Roman Nachts unter der steinernen Brücke enthält, obgleich im wesentlichen während des Zweiten Weltkriegs geschrieben, keine Anklage, keine politische oder weltanschauliche Botschaft, sondern ein kunstvolles Bild der Geschichte. Die ästhetische Eigenart dieses Bildes besteht darin, daß es erst in der Phantasiearbeit des Lesers Gestalt gewinnt. Der Leser muß — freilich auf eine spielerische, spannende und überaus genußvolle Weise — jene kreative Konstruktionsaufgabe nachvollziehen, die Aufgabe jeder narrativen Geschichtsschreibung ist. Von der Vergangenheit selbst nämlich bleiben nur stumme Reste, vieldeutige Quellen, Fragmente und Trümmer, die für eine Erzählung nicht mehr als den Stoff bieten. Wer vermöchte aus dem Inhalt des von Esther hinterlassenen Kästchens, in dem aufbewahrt lag, »was ihr in ihrem Leben lieb gewesen war«, die Geschichte ihres Lebens zu rekonstruieren?
Es war nicht viel. Kleine Dinge, geringe Dinge. Bunte Vogelfedern, ein verblaßtes Seidenband, eine Spielkarte, die ihr einmal in die Hände gekommen war, verwelkte Rosenblätter, die, wenn man sie berührte, in Staub zerfielen, ein silbernes Messerchen, das war zerbrochen, ein Stein, der geädert und wie eines Menschen Hand geformt war, eine Bernsteinkugel, eine Glaskugel und etwas, was dereinst der bunte Flügel eines Schmetterlings gewesen war.
Das Testament des Mordechai Meisl, der einzige Besitz, der von seinem berühmten Vorfahren auf den Erzähler, jenen verbummelten Jakob Meisl, gelangte, ist »in fünf oder sechs Stücke zerfallen« und enthält »Zeilen, deren Schrift verwischt und nicht leicht zu entziffern war«. Leo Perutz' Roman Nachts unter der steinernen Brücke, in einer altertümlichen, streng stilisierten Kunstsprache geschrieben, ist ein moderner skeptizistischer historischer Roman, in dem die Zerstörung und das Vergessen für eine Erinnerung konstitutiv werden, die niemals Besitz ist, sondern, wie die Deutung des Romans selbst, eine unabschließbare, konstruktive Aufgabe.
EDITORISCHE NOTIZ
Der 1953 in Frankfurt am Main erschienenen Erstausgabe des Romans Nachts unter der steinernen Brücke lag ein Typoskript zugrunde, das nicht erhalten ist. Für die vorliegende Ausgabe wurde der Text der Erstausgabe mit dem von Perutz geschriebenen Manuskript verglichen, das sich im Exil-Archiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main befindet. Da die Erstausgabe nur unerhebliche Abweichungen vom Wortlaut des Manuskripts aufweist, folgt die vorliegende Ausgabe dem
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