Nachts unter der steinernen Bruecke
welch verschlungene Pfade das Schicksal oder — wie der junge Rudolf glaubt — »die göttliche Providenz« geht, um sich schließlich im Sinne der traumhaften Prophezeiung zu erfüllen. Die in Träumen, Warnungen und Verwünschungen enthaltenen Prophezeiungen werden Wirklichkeit, ohne auf die Einsichten und Absichten der handelnden Menschen Rücksicht zu nehmen: Peter Zaruba kennt »die Prophezeiung des Johannes Zischka« und ißt gleichwohl »von des Kaisers Tisch«. Die determinierende Kraft solcher Prophezeiungen hat Alfred Polgar einmal als die »überlogische Kausalität« in Perutz' Romanen bezeichnet:
Es ist ein Wirkungs-Geheimnis dieser Bücher, daß die Ereignisse, deren Chronik sie sind, nicht nur ihre, mit aller Technik und Schlauheit einer ausgepichten Erzählerbegabung gefügte logische Folgerichtigkeit haben, sondern auch eine überlogische Kausalität, deren Kette letztes Stück durch Gottes Finger läuft. Der ist in jedem Buch von Perutz, so fem es aller Gläubigkeit und Religiosität, merkbar.
Diese »überlogische Kausalität« stiftet in den Romanen von Perutz eine ungeheuer dichte narrative Ordnung zwischen den kontingenten Handlungen der Romanfiguren. Das Geschehen ist von Vorausdeutungen bestimmt, die den handelnden Figuren nicht helfen, ihren Handlungen aber zumindest im nachhinein einen Sinn zu geben vermögen. Die simplen Fakten in der Lebensgeschichte eines Menschen wie in der großen Geschichte sind mit vielen Deutungen vereinbar, mit denen der Geschichtsbücher ebenso wie mit denen der historischen Romane. Für die Figuren in Perutz' Romanen müssen die Erklärungen historischer Fakten keinen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sondern einen befriedigenden lebensgeschichtlichen Sinn ergeben, denn ohne ihn kann ein Mensch weder leben noch sterben, wie der Tod des Alchimisten van Delle (»Der vergessene Alchimist«) und das Nicht-Sterben-Können Mordechai Meisls (»Das verzehrte Lichtlein«) sinnbildlich verdeutlichen.
»Wer hat Recht? Die Dichtung oder die Historiker?« fragte Perutz in der Rezension eines historischen Romans von Anatole France schon im Jahre 1907. Perutz hat diese Frage nie zu beantworten gesucht. Die seit Nietzsches Un zeitgemäßer Betrachtung< Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben in der deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis in die Exilliteratur heiß diskutierte Frage, ob die Wahrheit der Geschichte eine Domäne der Dichtung oder der wissenschaftlichen Historiographie sei, dürfte Perutz wenig interessiert haben. Der in der Wahrscheinlichkeitstheorie versierte Versicherungsmathematiker war auch als Romancier ein hartgesottener Skeptiker; Historiographie und Dichtung erschienen ihm als zwei gänzlich andersartige, verschiedene Ziele verfolgende und nach unterschiedlichen Methoden verfahrende konstruktive Bemühungen der Menschen, sich der Geschichte zu erinnern und sich ihres Ortes in ihr zu vergewissern. Perutz gestaltete die Geschichte in seinen Romanen stets als Tragikomödie, er glaubte an keinen der menschlichen Vernunft zugänglichen Sinn der Geschichte. Die den jüdischen Legenden zugrunde liegende Uberzeugung, daß alle Ereignisse der Geschichte in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen und nach einem einheitlichen Plan verlaufen, mag ihm für Nachts unter der steinernen Brücke als ästhetisches Konzept gedient haben — geteilt hat er diese Uberzeugung nicht. Als überlegen erweist sich die historische Dichtung gegenüber der wissenschaftlichen Historiographie nicht im Hinblick auf den Wahrheitsanspruch, sondern nur auf ihrem eigenen Feld: in der ästhetischen Prinzipien verpflichteten, möglichst dichten, keinen Charakterzug und keine Handlung überflüssig oder ungedeutet lassenden narrativen Verknüpfung der Ereignisse zu einem konsistenten Bild. Der Roman Nachts unter der steinernen Brücke beansprucht nicht, ein wahres Bild der Geschichte Prags im Ubergang vom 16. zum 17. Jahrhundert zu geben, sondern ein das kontingente Handeln historischer und fiktiver Figuren zu möglichst großem und vielfältigem Sinn- und Beziehungsreichtum verdichtendes Erinnerungsbild.
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Die tiefste Wirkung der Kunst der Erinnerungsbilder ist eine mystische, die die Menschen aus ihrer Selbstvergessenheit befreit und sie zu Einkehr und Umkehr führt.
Der Baron Juranic schenkt dem im Duell besiegten hochfahrenden und überheblichen Grafen Collalto das Leben, aber nur um sich am musikalischen Spektakel einer »Sarabande« zu ergötzen, zu der
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