Nachts unter der steinernen Bruecke
erst im letzten, dem vierzehnten Kapitel zu finden, während das erste seinen Stoff aus der Mitte der Handlung sich holt. Und doch erscheint mir diese Anordnung nicht willkürlich, sondern als die einzig denkbare und mögliche.
Nachts unter der steinernen Brücke ist der literarischen Gattung nach ein historischer Roman, doch wenngleich der Prag-Boman seinen Stoff der Geschichte, Sage und Legende entnimmt, handelt es sich bei ihm nicht um ein selbstgenügsames historisches Gemälde einer versunkenen Zeit. Der Rahmen des »Epilogs« und die in die zweite, vierte, achte und neunte Novelle eingeschobenen Rahmen-Stücke machen Perutz' Roman zu einer asymmetrischen Rahmenerzählung, in der die Fiktion erzeugt wird, es handle sich bei den Novellen um mündliche Erzählungen, die dem Erzähler im Alter von fünfzehn Jahren von seinem Nachhilfelehrer, dem verbummelten »stud. med. Jakob Meisl«, einem Nachfahren des legendären Mordechai Meisl, überliefert wurden. Beschwört Perutz mit dieser Fiktion einerseits die Ur-Situation des Erzählens und mit ihr die Authentizität der über Generationen hinweg überlieferten Geschichten, so zerstört er andrerseits die Illusion eines naiven historischen Erzählens, indem er den Zeilenabstand zwischen dem Erzählten und dem Erzählen hervorhebt. Jakob Meisl erzählt seine Geschichten zur Zeit der Assanierung des Prager Judenviertels (i8g6—1902), der die alte historische Judenstadt zum Opfer fiel. Niedergeschrieben wurden diese Erzählungen indes, so erläutert der Erzähler zu Beginn des Epilogs, erst fünfzig Jahre später — und es bedarf keiner Erläuterung, daß dies die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist, in der nach der Vernichtung des Prager Judentums dessen Geschichte und Kultur insgesamt in Vergessenheit zu geraten drohten. Schon die erzählerische Rahmenkonzeption mit ihrem doppelten Zeitenabstand deutet den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Vergessen an, der im Roman selbst auf vielfältige Weise zum Thema wird.
3
Die Handlung des Romans Nachts unter der steinernen Brücke spielt in zwei getrennten Welten, der Welt der Prager Judenstadt und der Welt der Burg Rudolfs II. Zwischen diesen Welten skizziert Perutz drei Verbindungswege: das Geld, die Kunst und die Liebe. Die einzige reale Verbindung schafft das Geld, das das Schicksal Rudolfs II. mit dem Mordechai Meisls verknüpft. Rudolf, der Repräsentant der dynastischen Macht, ist ständig in Geldnöten, nicht so sehr, weil er sich der protestantischen Stände oder der »brüderlichen Liebe« seines Rivalen Matthias erwehren muß, sondern weil nach dem Verlust der Traumgeliebten Esther seine einzige Liebe der großen, teuren Kunst gilt — »er liebte die Künste, er lebte nur für sie«, berichtet der Erzähler in der Novelle »Der Maler Brabanzio«. Mordechai Meisl hingegen entwickelt nach dem Verlust seiner Frau eine eigentümliche »Ehrsucht«: »Er trachtete nach Freiheiten, Rechten und Privilegien, die ihn über seinen Stand erheben sollten, auch wollte er durch einen Majestätsbrief auf allen seinen Wegen gesichert und befördert sein.« Die geschäftliche Beziehung zwischen Meisl und Rudolf stellt der betrügerische Kaiserliche Rat Philipp Lang her; es ist die einzige längerfristige Verbindung zwischen dem Kaiser und dem Juden.
Die Kunst stiftet nur eine einmalige und zufällige Begegnung zwischen Rudolf und Meisl. Im Haus des Malers Brabanzio begegnen sich unbeabsichtigt der Kaiser, der an den Bildern Brabanzios interessiert ist, und der Jude, der ein Bildnis seiner verstorbenen Frau in Auftrag gegeben hat. Aber Meisl, so heißt es in der Novelle »Der Maler Brabanzio«, »erkannte den Kaiser nicht, und der Kaiser nicht ihn«. So kommt eine Verbindung des Kaisers mit dem Juden über die Kunst nicht zustande, denn daß Meisl das Bild Esthers erhält, das der Kaiser »in völliger Entrücktheit« gezeichnet hatte, ist von Rudolf II. nicht beabsichtigt. Der Maler Brabanzio schließlich ist an dem wenig kunstverständigen Juden ebenso desinteressiert wie an dem kunstverliebten Kaiser — »Toren sind, die den Königen dienen«, weist er den unbekannten Besucher zurecht, der ihm den Kaiser als Mäzen preist. Es sind drei einander wesensfremde Männer, die in Perutz' Künstler-Novelle aufeinandertreffen, unzusammenhängende Reden führen und Dinge tun, die unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Der Künstler Brabanzio erhält von Meisl Geld für ein Porträt, das er nicht gezeichnet hat
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