Nachts wenn der Teufel kam
Conférence.
»Der Franz hat ja eine tolle Fantasie«, sagt ein Abteilungsleiter. »Sein erster Mordfall, was? Der Eifer ist ja ganz schön, aber wenn er das immer so macht, können wir uns auf allerhand gefaßt machen.«
Noch an diesem Nachmittag wird eine Aktennotiz angefertigt, aus der hervorgeht, daß es sich bei den Schilderungen Lüdkes um frei erfundene Geschichten handelt, die ihren Erzähler als unzurechnungsfähig erscheinen lassen. Nicht im Protokoll steht, daß man den Eifer des Kriminalkommissars Franz belächelt und für überflüssig hält.
Am nächsten Morgen ist Franz schon um acht Uhr auf der Dienststelle. Unruhig geht er hin und her. Wenn Kriminalrat S. die Akten gelesen hat, muß man ihm freie Hand geben für die weiteren Ermittlungen. Wenn er sie nicht gelesen hat, wird Franz an den Untersuchungen trotzdem weiterarbeiten, mit oder ohne Auftrag.
Dann kommt S. früher als erwartet. Er ist blass, nervös.
»Mensch«, sagt er, »das kann doch nicht stimmen. Franz, denken Sie an die Konsequenzen, wenn die Öffentlichkeit jetzt erfährt, daß wir einen solchen Mörder zwanzig Jahre lang nicht fassen konnten. Noch dazu einen Dorfdeppen, der vor unserer Haustür sitzt. Sie haben sich vom ersten Augenblick an gedacht, daß das ein vielfacher Mörder sein muß. Sie haben sich in die Idee verrannt. Sie haben Lüdke immer und immer wieder in die Zange genommen. Sie haben ihm Zigaretten oder Kaffee oder sonst etwas gegeben, was er gern mochte. Er ist ein gutmütiger Trottel. Er hat zu allem ja gesagt, und dann haben Sie es niedergeschrieben. Mensch, Franz, geben Sie es doch zu!«
Der Kriminalrat läuft nervös hin und her. Das kärgliche Licht des Morgens läßt sein Gesicht noch fahler, noch älter erscheinen.
»Sagen Sie doch, um Gottes willen, daß es so war und nicht anders!«
»Nein«, erwidert Franz fast barsch.
Die beiden Beamten sehen sich an.
»Ich bin noch nicht lange im Dienst. Aber ich bin kein Idiot, Herr Kriminalrat. Der Mann hat immer wieder von Morden gefaselt. Ich hielt das alles für Geschwätz. Dann begann er, Tatorte zu schildern. Tatorte von Mordfällen, die überhaupt nicht in der Zeitung standen. Mit einer Genauigkeit, die gespenstisch ist. Ich zog die Akten heran. Für mich gibt es keinen Zweifel, daß der Mann diese Frauen ermordet hat.«
»Schweinerei!« flucht Kriminalrat S. »Unerhörte Schweinerei, wie es noch keine gab. Ich befehle Ihnen hiermit, den Mund darüber zu halten. Ich werde die Sache nach oben weitermelden, wo eine spezielle Entscheidung zu treffen ist, was wir hier machen sollen. Es darf kein Mensch ein Wort davon erfahren, mag die Sache nun stimmen oder nicht. Lancieren Sie in die Köpenicker Zeitung, daß Bruno Lüdke wegen Mordverdachts in Haft ist. Mehr nicht. Lassen Sie durchblicken, daß der Kerl vielleicht unschuldig ist, und machen Sie weiter. Ich rufe Sie heute Nachmittag an, oder ich komme selbst hinaus.«
Kriminalrat S. meldet den Fall dem Reichssicherheitshauptamt. Das Reichssicherheitshauptamt gibt die Meldung an Himmler weiter. Himmler verfügt sofort, daß der Fall Lüdke als ›Geheime Reichssache‹ behandelt werden muß. Auf eine auch nur fahrlässige Indiskretion steht Todesstrafe. Der eiserne Vorhang ist über den Frauenmorden heruntergegangen.
Jetzt wird eine Sonderkommission von Spezialbeamten der Berliner Kriminalpolizei gebildet. Unter Leitung des Kriminalkommissars Franz. Sie soll klären, welche Verbrechen der doofe Bruno aus Köpenick tatsächlich verübt hat. Man stellt Sonderausweise, Marschbefehle, Lebensmittelkarten und Autos zur Verfügung.
An alle deutschen Polizeidienststellen ergeht die Aufforderung, die ungeklärten Frauenmorde der letzten zwanzig Jahre umgehend nach Berlin zu melden. Die Sonderkommission verschickt folgendes Rundschreiben:
»Wegen Mordes an Frieda Rösner wurde der hier ansässige Hilfsarbeiter Bruno Lüdke verhaftet. Er steht im Verdacht, seit vielen Jahren zahlreiche Verbrechen an Frauen, insbesondere Morde, verübt zu haben. Die Fahndung wird von hier aus zentral gesteuert. Örtliche Recherchen sind zu unterlassen. Der Fall ist als ›Geheime Reichssache‹ zu behandeln.«
Die Beamten der Sonderkommission, vorwiegend von der Berliner Kriminalstelle MII/2 abgestellt, stöhnen unter der Flut des eingehenden Materials. Nach einigen Tagen schon sehen sie sich mehr als hundert ungeklärten Morden gegenüber, deren sich die lokalen Fahndungsstellen nur zu gern entledigen würden.
Die vielen neuen
Weitere Kostenlose Bücher