Nachts wenn der Teufel kam
Gesichter machen Bruno Lüdke zunächst so verstockt, daß er tagelang jede Aussage verweigert. Er ist nicht dazu zu bewegen, die Zelle zu verlassen. Natürlich könnte man ihn gewaltsam vorführen, aber Kriminalkommissar Franz hat angeordnet, Bruno zunächst ganz nach der ›weichen Methode‹ zu behandeln. Der Beamte ist sich darüber im klaren, daß er die Monster-Mordserie nur klären kann, wenn der Täter selbst dabei mithilft.
Mit einigen Beamten freundet sich Bruno Lüdke an. Er duzt sie und nennt sie beim Vornamen. Er erzählt ihnen alle möglichen Geschichten, aber wenn sie zu Protokoll gebracht werden sollen, weicht er aus und grinst.
Andere Mitglieder der Sonderkommission müssen abgelöst werden, weil sich Bruno vor ihnen fürchtet. Wenn er sie sieht, läuft er schreiend davon, versteckt sein Gesicht hinter den Händen und zittert.
Bruno Lüdke ist ein mehr als seltsamer Häftling. Zum Frühstück schon verlangt er Kartoffeln. Am liebsten isst er sie kalt, mit der Schale. Wenn er keine Zigaretten erhält, spricht er kein Wort. Bei Fliegeralarm kriecht er unter das Bett. Er glaubt, dort Schutz vor den Bomben zu finden. In den Luftschutzkeller geht er um keinen Preis.
Einmal brüllt er mitten in der Nacht um Hilfe und hämmert mit seinen Fäusten gegen die Zellentür.
»Was ist?« fragt ihn der Wärter.
»Sie wollen mich umbringen.«
»Wer?«
»Na, die Weiber natürlich.«
»Sind doch gar keine hier.«
Bruno, schweißgebadet und zitternd, erklärt: »Ick war einjeschlafen. Auf einmal sind se alle jekommen und haben sich an mein Bett jesetzt. Alle, die ick umjebracht habe. Die große Dicke von neulich, und dann die Kleene, weest schon, die von Meißen. Sie haben mir an die Jurgel jefaßt und den Hals zujedrückt. Dann sind se um mich herumjetanzt und haben immer jeschrien: ›Jetzt haben se dir, Bruno. Und jetzt hängen se dir uff. Jetzt kommt die Rübe runter.‹«
Bruno Lüdke weigert sich, allein in der Zelle zu bleiben. Aus Angst vor seinen Träumen. Von jetzt an schläft ein Wärter bei ihm. Ein anderer kauert vor der Tür. Der Untersuchungsgefangene ist unberechenbar. Einmal hat er Streit mit einem anderen Häftling. Er wirft ihn blitzschnell mit solcher Wucht gegen die Wand, daß der Mann tagelang im Gefängnislazarett liegen muß.
An seinen ›guten‹ Tagen hingegen ist Bruno bei der Aufklärung seiner Verbrechen die Hilfsbereitschaft selbst. Während er die Tatorte immer wieder mit verblüffender Genauigkeit schildern kann, kennt er die Ortsnamen nicht. Er weiß nicht, ob er die Morde im Süden oder Norden verübte. Er sagt nur: ›Große Stadt‹ oder ›Kleine Stadt‹.
Das Reichskriminalpolizeiamt wird täglich telefonisch und schriftlich von dem Fortgang der Ermittlungen unterrichtet. Am liebsten wäre es dieser zentralen Behörde immer noch, wenn der Fall Lüdke platzen würde, wenn sich Brunos Schilderungen als die wirren, irren Träume eines Schwachsinnigen herausstellen würden.
Da geschieht, drei Wochen nach Brunos Verhaftung, etwas, was geeignet sein könnte, den Fall Lüdke wie eine Seifenblase platzen zu lassen.
Gellende Hilferufe dringen schaurig durch die Nacht – durch eine Nacht im April des Jahres 1943. Es ist gegen 23 Uhr. Alles war bisher ruhig hier, in der Nähe des Treptower Parks in der Reichshauptstadt Berlin.
Sicher rennen viele Menschen an die Fenster, um zu sehen, was los ist. Hat ein Kind geschrien oder eine Katze?
Das Interesse für die Ursache der nächtlichen Ruhestörung erlahmt schnell, denn jetzt ist es wieder still.
Erst Stunden später weiß man, was geschah: Ein junges Mädchen, 19 Jahre alt, wurde überfallen, missbraucht und ermordet. Ein paar Passanten sahen den Täter. Sie setzten ihm nach, konnten ihn aber nicht einholen. Aber sie sahen ihn im Nebel – oder sie glaubten wenigstens, ihn gesehen zu haben. Sie beschrieben ihn als klein, untersetzt. Sie sagten aus, daß er eine Schirmmütze und einen dunkelblauen Anzug trug. Das entspricht genau der Beschreibung, die die Berliner Polizei seit langem von dem gesuchten Frauenmörder hat, der jetzt in Köpenick in Haft sein soll.
Diesem Mord, verübt an Erika Feind, schenkt das Reichskriminalpolizeiamt ganz besondere Aufmerksamkeit. Vielleicht war das hier der eigentliche Mörder, und Bruno Lüdke ist doch nichts anderes als ein phantasierender Idiot? Vielleicht kommt die Polizei noch einmal um die Tatsache herum, daß ein Dorfdepp 70, 80, vielleicht noch mehr Frauen fast unter den Augen der
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