Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
sich nicht vom Fleck. Ich zog noch fester an ihm, stemmte mich in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel gegen seinen Widerstand - ohne Erfolg.
Schließlich richtete ich mich auf und ließ seine Hand los. Ich sah ihn ratlos an, doch in seinen Augen herrschte gähnende Leere. Also nahm ich all meinen weiblichen Instinkt zusammen und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wahrscheinlich hätte ich ihm genauso gut einen Peitschenhieb versetzen können.
Doch der Schlag tat seine Wirkung. Er zwinkerte einmal, dann noch einmal und erwachte plötzlich wieder zum Leben. Ich packte ihn an den Schultern, damit er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete, denn es hätte keinem von
uns genutzt, wenn er in diesem Moment in Panik ausgebrochen wäre.
Die Alfar hatten mittlerweile das Sperrfeuer eröffnet, und kleinere Explosionen erschütterten die Halle an verschiedenen Orten. Wir mussten von hier verschwinden und zwar pronto.
»Hey, Kumpel«, sagte ich laut genug, damit er mich bei all dem Lärm um uns herum hören konnte, aber trotzdem so gefasst wie möglich. »Wie heißt du?«
»Ed«, sagte er irritiert. »Wo bin ich?«
Er versuchte, sich umzusehen, aber ich legte meine Hände an seine Wangen, damit er seinen Blick auf mich gerichtet hielt. »Ed«, erklärte ich, »wir sind an einem Ort, an dem keiner von uns sein möchte. Also lass uns von hier verschwinden, okay?« Ich nahm seine Hand und versuchte wieder, ihn wegzuziehen, aber er rührte sich noch immer nicht.
»Da war so eine Frau…«, murmelte er immer noch sichtlich verwirrt.
»Ja«, unterbrach ich seine Gedanken, »da war eine Frau, aber jetzt ist sie weg. Wir müssen los und zwar sofort.« Meine Stimme wurde vor Aufregung langsam schrill. Rechts neben uns kam Unruhe auf, und allerlei Kreaturen hechteten aus dem Weg. Irgendetwas kam da auf uns zu.
Ich zog noch fester an seiner Hand, und er sah mich an. Langsam machte er Anstalten aufzustehen, als ob er meine Angst spürte. Ich zerrte weiter an ihm und signalisierte ihm, sich zu beeilen. Er nickte, als habe er gerade eine Entscheidung getroffen, und erhob sich endlich. Mit einem entschlossenen Satz sprang er vom Podest und landete direkt hinter mir. Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Los,
lauf«, sagte er, und ich war gerade dabei mich umzudrehen, als ich etwas Feuchtes an meine Wange spritzen spürte. Der Gesichtsausdruck des Mannes verwandelte sich wie in Zeitlupe von Entschlossenheit in Verständnislosigkeit. Unser beider Blicke wanderten nach unten, und völlig fassungslos betrachteten wir das glühende Schwert, das ihm aus der Brust herausstand. Seine Augen erloschen, und er sank auf die Knie. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich schrie.
Eine Bewegung hinter dem Rücken des sterbenden Mannes zog meinen Blick an. Es war Jimmu. Er hatte das Schwert geworfen - entweder auf mich, und der Mann war dazwischen geraten, oder auf den Mann, um Jimmu den Weg frei zu machen. So oder so, nun stand nichts mehr zwischen mir und der mörderischen Wut des Naga.
Ich wich zurück und kämpfte gegen Jimmus lähmenden Blick an. Ich wünschte, ich hätte noch einmal die Gelegenheit, meinen Vater anzurufen. Die Ereignisse hatten mich so überrumpelt, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, meine Angelegenheiten zu regeln. Aber ich denke, es ist normal, dass Leute Mitte zwanzig nicht an so etwas denken. Ein Fehler, den ich sicher nicht noch einmal machen würde - das heißt, falls ich noch einmal die Gelegenheit dazu bekam.
»Und vor ein paar Tagen hast du dir noch Gedanken darüber gemacht, wie es ist, ewig zu leben«, dachte ich, als sich Jimmus Gesicht meinem auf Zentimeter näherte. Anscheinend wollte er mir in die Augen sehen, wenn er mich tötete.
Doch bevor der Dolch, den Jimmu bereits gezückt hatte, meine Kehle erreichte, stürzte sich Ryu auf den Naga. Mein Beschützer blutete heftig aus einer klaffenden Wunde im
Gesicht, und er schien etwas zu humpeln, aber es gelang ihm trotzdem, Jimmu von mir weg und zu Boden zu reißen. Dabei flog dem Angreifer der Dolch aus der Hand, und Ryu nutzte die Gelegenheit, Jimmu mit den Fäusten zu bearbeiten. Da mir bewusst war, dass ich noch immer nicht in Sicherheit war, und weil ich nicht mit ansehen wollte, wie jemand zu blutigem Brei geschlagen wurde, ganz gleich, wie wenig ich ihn mochte, beschloss ich, alles Weitere Ryu zu überlassen. Mit einem letzten Blick auf den toten Menschen, dessen Tod beim Versuch ihn zu retten ich letztendlich verschuldet hatte, floh ich durch die Tür aus der
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