Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
an diesen Anblick gewöhnen musste. »Da bekommt man ja Kopfschmerzen«, dachte ich, »aber es ist unglaublich schön.«
»Der Verbund wird ständig von einer Aura abgeschirmt«, erklärte Ryu mir. »Weil du noch zu wenig Übung darin hast und die Aura sehr stark ist, konnte sie auch dich täuschen. Aber von jetzt an wirst du alles in seiner wahren Gestalt sehen.«
Ich hatte das Gefühl, dass er ein bisschen zu optimistisch war, aber ich rang mir trotzdem ein Lächeln ab. Ich war unheimlich nervös, und außerdem taten mir die Füße schon furchtbar weh. Ich trug das Outfit mit der schwarzen Hose, der Bluse, dem engen Gürtel und den Stöckelschuhen, das Iris für mich ausgesucht hatte. Ich hatte im Hotel, während Ryu schlief, geübt, auf hohen Absätzen zu gehen und war mir mittlerweile relativ sicher, dass ich nicht bei jedem Schritt das Gleichgewicht verlieren würde. Aber so lässig und elegant wie Sarah Jessica Parker auf High Heels bewegte ich mich noch bei weitem nicht. Wahrscheinlich würde ich das nie lernen.
»Wie kann es so ein Riesending hier draußen geben?«, fragte ich Ryu und betrachtete das gigantische Gebilde. »Wie haben sie das bloß gebaut, ohne dass es jemand bemerkt hat?«
Ryu musste wieder lachen und legte den Arm um meine Taille. »Diesen Verbund gab es schon, bevor Menschen die Erde bevölkerten«, erklärte er mir. »Es hat Völkerwanderungen, Überfälle, Kriege und sogar die massive Ausbreitung der Städte überdauert. Nicht einmal Starbucks hat es als Standort für sich entdecken können.«
Ryu lächelte aufmunternd und zog mich am Arm die Stufen hinauf, aber ich zögerte. Bevor ich das Verbundsgebäude betrat, musste ich noch eine Frage beantwortet haben, die mich schon verfolgte, seit Anyan mich in meine Bucht gejagt und ich die Wahrheit über meine Herkunft erfahren hatte.
»Meine Mutter?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Werde ich sie sehen?«
Ryu blieb stehen, drehte sich um und sah mich ernst an. Behutsam strich er mir die Ponyfransen aus den Augen. »Wahrscheinlich nicht«, gab er zu, unsicher, wie ich darauf reagieren würde. »Selkies gehören eigentlich nicht an den Hof. Ihre Welt ist das Meer. Wir Landratten verwirren sie bloß.«
Ich schloss die Augen, als ich seine Worte hörte. Wenn ich ganz ehrlich war, wusste ich nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Ein Teil von mir würde alles geben, um meine Mutter wiederzusehen; und dadurch, dass ich Nell, Anyan und Ryu getroffen und durch sie die Wahrheit über mich erfahren hatte, hatte plötzlich die Möglichkeit dazu bestanden. Doch auf der anderen Seite war ich noch immer wütend auf sie. Diese Wut versuchte ich zwar zu verleugnen, aber sie war dennoch präsent.
Glücklicherweise wartete Ryu bloß schweigend, bis ich mich wieder gefangen hatte. Als ich die Augen wieder öffnete, versuchte ich mir ein Lächeln abzuringen, was mir aber nicht recht gelingen wollte.
»Na ja, sie konnte ja auch nicht wissen, dass ich hier auftauchen würde«, sagte ich, und meine Stimme klang bitter. »Schließlich ist sie schon seit zwanzig Jahren irgendwo, wo sie offenbar ziemlich schlechten Empfang hat.«
Ryu zog mich an sich und umarmte mich fest, eine Geste, bei der ich plötzlich gegen meine aufsteigenden Tränen ankämpfen musste. Ein paar Minuten standen wir einfach so da, bis seine Stimme aus seiner Brust an mein Ohr drang.
»Jane, ich weiß, dass das Verschwinden deiner Mutter furchtbar hart für dich gewesen sein muss. Und ich weiß auch, dass nichts, was ich sage, etwas daran ändern kann. Aber mit Selkies ist das nun mal so, sie brauchen das Meer wie Menschen das Sonnenlicht.« Er lehnte sich ein bisschen zurück und hob mein Kinn, so dass ich ihm direkt in die Augen sah. »Seine Mutter gerade mal sechs Jahre bei sich zu haben, ist natürlich bei weitem nicht genug«, fuhr er fort und wählte sorgfältig seine Worte. »Aber für sie muss es unglaublich hart gewesen sein, so lange außerhalb des Meeres zu leben. Ich weiß, dass das deinen Schmerz nicht aufheben oder ihren Verlust für dich leichter machen kann...« Ich hatte noch nie erlebt, dass Ryu um Worte rang, aber jetzt tat er es. Er schüttelte resigniert den Kopf. »... aber sie muss dich und deinen Vater sehr geliebt haben«, fügte er hinzu, »weil sie es überhaupt so lange auf dem Festland ausgehalten hat, selbst wenn sie den Atlantik praktisch direkt vor der Tür hatte. Das solltest du wissen.« Ich lehnte meine Stirn an seine Brust und
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