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Nackt unter Wölfen

Nackt unter Wölfen

Titel: Nackt unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Apitz
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in tierischer Gleichgültigkeit, ließen sie sich treten und prügeln. Einem »Tonnenadler« konnte man in die Fresse hauen oder in den Arsch treten, ohne dass er mit einer Regung darauf reagiert hätte. Höchstens, dass er einmal weinte wie ein Kind. Wurde er angebrüllt: »Hau ab, du verfluchter Speckjäger!«, dann trottete er stumpfsinnig fort. Bekam er noch einen kräftigen Tritt in den Hintern mit auf den Weg, drehte er sich nicht um, lief auch nicht schneller, sondern torkelte nur – vom Fußtritt aus seinem Gleichgewicht gebracht – einige Schritte, um dann wieder in seinen stupiden Trott zu verfallen. Am Zaun des »Kleinen Lagers« standen sie den ganzen Tag über, eingefangenen Tieren ähnlich, und stierten geistlos auf die Vorübergehenden. Bettelten um eine Kippe. Sie empfingen keine Briefe und durften keine schreiben. Verschollene für ihre Angehörigen waren sie, und wir wussten nicht, woher sie kamen, wer sie waren. Sie sprachen eine Sprache, die uns fremd war, und hinter ihrer gefurchten Stirn dachten sie Gedanken, die wir nicht kannten. Sie waren die Seuchenträger des Lagers. Fleckfieber,Bauchtyphus und Ruhr wüteten mörderisch unter ihnen. Sie verreckten, wo sie standen und lagen. Am Tage in einem Winkel hinter ihrem Block, des Nachts in ihren Bretterverschlägen. Frühmorgens wurden die Toten aus den Blocks … getragen (hätte ich bald gesagt). Aber ein Toter des »Kleinen Lagers« wurde nicht zum Block hinausgetragen, sondern hinausgeworfen, so wie eine Schaufel Kehricht hinausgeworfen wird. Dann wurden die Leichen auf einen großen Wagen eingesammelt und zum Krematorium gefahren. Den größten Teil der 51   000 Toten lieferte das »Kleine Lager« …
    Der ewige Hunger, die absolute Besitzlosigkeit legten die niedrigsten Instinkte, die in einem Menschen wohnen können, in ihnen nackt und bloß. In den Blocks bestahlen sie sich gegenseitig in unvorstellbarer Weise. Täglich kam es zu Zusammenstößen unter ihnen. Wenn die »Kretiner« des »Kleinen Lagers« anderen gegenüber sich passiv und apathisch verhielten, unter sich wurden sie zu Bestien. Plötzlich entsteht ein Tumult im Block. Was ist wieder los? Da haben sich zweie ineinander verbissen wie hungrige Hunde. Der eine umklammert mit schmutzigen Händen ein Stück Brot, das ihm der andere entreißen will. Sie zerren und schreien, packen sich und schlagen aufeinander ein. Das Brot fällt zu Boden und wird im Dreck zertreten und zertrampelt. Andere fischen es sich zwischen den trampelnden Beinen auf und stopfen sich die Brocken hastig in den Mund und wollen mit dem Rest verschwinden. Aber es sind schon wieder Neue da, die Beute wittern, und so jagen sie sich gegenseitig den Raub wieder ab. Tumult und Menschenknäuel! Und ehe der Blockälteste kommt, um die Irrsinnigen auseinanderzutreiben, liegt schon einer am Boden, die zerfetzten Lumpen glitschen im Blut, das aus seinem Bauche quillt. Ein Küchenmesser liegt neben ihm. Wer hat gestochen? Der Täter ist im Trubel verschwunden! Vielleicht ist es jener, der dortin der Ecke steht und zertretenes Brot gierig und hastig verschlingt, mit wachsamen Augen um sich schauend. Ein Pole, ein Russe, ein Franzose, ein Deutscher? … Ein Menschentier! … Um ein Brot oder auch nur um einen alten Fetzen verdreckten Stoff haben sie sich gegenseitig totgeschlagen.
    Das erschütterndste Bild aber boten die Insassen des »Kleinen Lagers« am Tage unserer Befreiung, dem 11. April 1945! Während das ganze Lager aufjubelte im Rausch der wiedergewonnenen Freiheit, während die Kolonnen der antifaschistischen Kämpfer marschierten, die Knarre in der Hand, die SS gefangen nahmen und vom Lager Besitz ergriffen, standen die Insassen des »Kleinen Lagers« noch lange nach dem Einmarsch der Amerikaner am Drahtzaun und bettelten um etwas Rauchbares. Keine Auflockerung ihrer Züge zeigte an, dass sie freie Menschen geworden waren. Keine Freude und keine Erregung hatte sie erschüttert, so tief waren sie in den Pfuhl ihres erbärmlichen Daseins gesunken. Durch den faschistischen Terror, durch die Schrecken und Qualen ihrer Gefangenschaft völlig entmenscht, hatten sie die Größe des Geschehens überhaupt nicht begriffen.
    Sie blieben das, zu dem sie das »Kleine Lager« gemacht hatte.
    Kann eine Anklage gegen die nazistischen Mörder grauenhafter sein als die seelische Unfähigkeit Tausender Menschen, die Tatsache ihrer Befreiung zu erkennen? Ich habe Tränen in den Augen amerikanischer Soldaten gesehen, als sie zum

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