Nächte am Nil
Jörgi, der jetzt täglich nach seiner Mutti fragen würde und immer wieder ausweichende Antworten bekam.
Unruhig lief Birgit in dem großen, niedrigen Zimmer hin und her. Selbst am Fenster sitzen konnte sie nicht mehr. »Ich halte durch«, sagte sie laut zu sich und erschrak über ihre eigene Stimme. Sie klang hohl und wie in einen weiten Raum gehaucht. »Ich habe die Kraft, Alf zu suchen.«
Es klopfte an der Tür. Birgit schrak zusammen und sagte laut: »Wer ist da?«
»Signora, bittä!«
Renato, der Bürgermeister. Birgit öffnete die Tür einen Spalt und sah in das lächelnde Gesicht des Fischers. Er hatte einen kleinen Packen Zeitungen unter dem Arm und hielt sie Birgit vor die Augen.
»Danke.« Sie nahm die Zeitungen, schloß die Tür und warf die Blätter auf den Tisch. Renato entfernte sich mit einem Kopfschütteln. Blonde Damen in Italien sind sonst weniger abweisend.
Die Zeitungen, die Renato gebracht hatte, stammten von seinem Sohn, der aus der Art schlug. Er war nicht Fischer geworden, sondern Fernfahrer. Auch heute hatte er die Morgenzeitungen aus Rom mitgebracht.
Während Birgit ihre unruhige Wanderung durch das Zimmer wieder aufnahm, saß hinter dem Haus der Chauffeur in dem großen Wagen. Er hatte die Antenne ausgefahren, aber sie brachte keine Musik, sondern unter dem Armaturenbrett, herausklappbar, befand sich eine Morsetaste, und die Antenne war ein Kurzwellensender. Ein paar Minuten lauschte der Chauffeur auf das leise Ticken, das in seinem Kopfhörer erklang. Was er hörte, schrieb er im Klartext mit. Dann schaltete er auf Sendung und meldete: »Alles verstanden. Ende.«
»Sie kommen heute nacht«, sagte er, als er zu Zuraida in das Wohnzimmer zurückkam. »Es hat Schwierigkeiten gegeben. Irgend etwas muß am Nil fehlgeschlagen sein. Wir werden auch nicht in Bengasi an Land gesetzt, sondern irgendwo im Nildelta. Dort wird man uns erwarten.«
Zuraida las den Zettel, dann hielt sie ein Streichholz daran und ließ das Papier verbrennen. Selbst die Asche zerrieb sie noch zwischen den Händen und streute sie dann aus dem Fenster in den goldgelben Sand.
»Die Hauptsache ist, daß wir heute nacht noch aus diesem Nest wegkommen«, sagte sie leise. »Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl. Wenn Birgit die Sache mit dem Jungen erfährt …«
»Wie sollte sie das?« Der Chauffeur winkte ab. »Hier gibt es keine Zeitungen, und in Ägypten wird sie andere Sorgen haben.«
Unterdessen blätterte Birgit unlustig und nur, um sich von den bohrenden Gedanken über ihr wahnwitziges Unternehmen abzulenken, in den Zeitungen und Zeitschriften, die Renato ihr gebracht hatte. Sie konnte kein Italienisch. Die großen Überschriften sagten ihr nichts, waren nur ein Sprachklang.
Die Bilder aus Politik und Gesellschaftsleben widerten sie in diesen Minuten an. Lächelnde Gesichter, glückliche Augen, sich küssende Paare, nackte Schönheiten am Strand … und in der Wüste verschwindet ein Mann, und keiner kümmert sich darum.
Die letzte Zeitung, ein römisches Morgenblatt, lag zuunterst, und Birgit wollte es schon weglegen wie die anderen Zeitungen, als ihr Blick auf eine riesige Schlagzeile der ersten Seite fiel. Eine dicke Balkenschrift. Ein Name, den es nur einmal auf der Welt gab.
Detlef-Jörg Brockmann.
Mit einem leisen Aufschrei riß sie das Blatt hoch und trat an das Fenster, um im Abendlicht besser lesen zu können. Die drei Schritte bis dahin waren eine Qual, waren das Wegschleppen zentnerschwerer Beine.
Vor ihren Augen verschwammen die großen Buchstaben, als sie Jörgis Namen wieder las. Sie lehnte sich gegen die Wand und krallte die Finger in das Papier, weil sie fühlte, wie die Zeitung aus ihrer Hand glitt.
Jörgi –
Etwas Furchtbares mußte geschehen sein, wenn selbst die italienischen Zeitungen so groß darüber berichteten. Aus den verschwimmenden Buchstaben, die in roten und gelben Kreisen vor ihren Augen tanzten, schälten sich Worte, die sie nicht verstand, aber das Wort morte sah sie nirgends. Tot ist er nicht – das war das einzige, was sie sich in diesem Augenblick innerlich zuschrie. Er ist nicht tot. Aber irgend etwas ist mit Jörgi vorgekommen, er ist zum Mittelpunkt des Weltinteresses geworden, er …
Und plötzlich wußte sie es. Ganz kalt, ganz klar war es in diesem Moment der Erkenntnis in ihr: Man hatte Jörgi als Druckmittel genommen. Man hat Jörgi in den unterirdischen Kampf gezogen.
Sie ballte die Fäuste, riß die erste Seite der Zeitung ab und steckte sie,
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