Nächte am Nil
während die Spurensicherungsbeamten hinter der Hecke die Reifenspuren eines Wagens mit Gips ausgossen. Mehr war nicht zu entdecken. Keine Anzeichen von Gewaltanwendung, keine Schleifspuren, vor allem kein Blut.
»Es steht außer Zweifel, daß der Junge freiwillig mitgegangen ist«, sagte der Kriminalbeamte, der die Untersuchung leitete. »Ein Bekannter muß ihn abgeholt haben.«
»Jörgi hat keine Bekannten, die mit dem Auto vorfahren!« schrie Gerrath. »Der Junge ist fünfeinhalb Jahre alt, für sein Alter sehr aufgeweckt und klug. Der einzige aus unserem Bekanntenkreis mit einem Wagen bin ich. Und ich saß auf der Terrasse, als es geschehen sein muß.«
»Und haben nichts gehört?«
»Nein.«
»Was beweist, daß der Junge nicht gezwungen wurde.« Der Kriminalbeamte pochte mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Vielleicht stellt sich alles als ein harmloser Ausflug dar? Nur auf Ihr Drängen sind wir ja überhaupt herausgekommen. Sie wissen als Anwalt selbst, daß Vermißtenanzeigen erst nach vierundzwanzig Stunden Sinn haben.«
»Was kann in vierundzwanzig Stunden alles geschehen sein!« schrie Gerrath.
»Oder was nicht. Wir müssen zunächst abwarten. Die Spuren sind gesichert.«
»Sie sollten alle Autobahnen und Zufahrtsstraßen sperren!« rief Gerrath.
»Dazu haben wir im Augenblick gar kein Recht. Erst wenn feststeht, daß eine Entführung erfolgte. Was ist, wenn der Junge in einer Stunde quietschvergnügt an der Tür steht? Wollen Sie die Großfahndung verantworten?«
»Mit anderen Worten: Erst wenn etwas geschehen ist, wird gehandelt. Zum Kotzen ist das, meine Herren.«
Zwei Polizisten hatten unterdessen mit Hilfe des Arztes Berta Koller auf ihr Zimmer getragen. Ein Kriminalbeamter blieb unten im Haus bei Gerrath zurück, während die anderen wieder abrückten.
»Es sind die Reifenspuren eines VWs«, sagte der Einsatzleiter noch zum Abschied. »Haben Sie im Bekanntenkreis einen VW-Fahrer?«
»Nein.« Gerrath drehte sich weg. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er mit sich gerungen. Nun sah er keine andere Möglichkeit mehr.
»Bitte, lassen Sie den Chef der politischen Abteilung der Kripo rufen«, sagte er. Der Kriminalbeamte zog wie unter einem Schlag den Kopf zwischen die Schultern. »Politische? Aber wieso denn?«
»Das hier ist ein politisches Verbrechen.«
»Ich verstehe nicht …«
»Es ist auch schwer zu verstehen. Und es ist ein verdammt heißes Eisen. Mit der Asche eines Toten fing es an.«
Kopfschüttelnd verließ der Kriminalbeamte das Zimmer. In der Diele rief er seine Dienststelle an.
»Bitte, sagen Sie Herrn Kriminalrat Dr. Scheuring, er möchte nach hier herauskommen. Es scheint wichtig zu sein. Was es ist? Ich weiß nicht. Ich bin dafür nicht zuständig. Aber es scheint so, als wenn an der Entführung des Jungen doch was dran ist.«
Der große Apparat der Polizei war angekurbelt worden. Und doch lief er von diesem Augenblick an wie auf lautlosen gut geölten Kugellagern.
Ein politisches Verbrechen … da ist ein Filzhandschuh nicht weich genug, ein Wispern noch zu laut.
Um das kleine, weiße Haus am Kanal zog sich ein unsichtbarer Ring. Es wurde von der Umwelt vorerst abgesperrt.
*
Jörgi kam wieder zu sich und lag in einem großen Zimmer auf einem Sofa. Sein Kopf brummte, ihm war speiübel, und immer lag ihm noch der widerlich süße Geruch in der Nase und klebte am Gaumen. Er wußte nicht, was geschehen war, er kannte das Zimmer nicht – aber als sein Blick auf Zareb fiel, der in einem Sessel saß und rauchte, verflog seine Angst sofort. Mit einem piepsenden Laut richtete sich Jörgi auf.
»Wo bin ich?« fragte er und hielt sich mit seinen beiden kleinen Händen die Schläfen fest. »O Mann, mein Kopf.«
Er setzte sich und sah sich um.
Ein gut eingerichtetes Zimmer, große Fenster, vor ihnen eine weite Landschaft und das breite Band der Elbe. Große Schiffe, viel größer, als Jörgi jemals in Lübeck gesehen hatte, fuhren träge an den Fenstern vorbei.
»Du bist in Hamburg«, sagte Zareb freundlich. Er stand auf und setzte Jörgi ein Glas mit Orangensaft an die trockenen Lippen. Der Junge trank durstig und nahm dann das Glas in seine Hände.
»Hamburg?« fragte er verständnislos. »Was ist Hamburg?«
»Eine große Stadt.«
»Du hast mich hingebracht? Und Omi? Und Onkel Konrad? Mensch, werden die schimpfen.«
»Sie wissen es ja. Ich habe sie vorher gefragt. Weil deine Mutti verreist ist, sollst du jetzt bei mir wohnen, um dich zu erholen. Freust du
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