Nächte am Nil
zusammengefaltet, in die Bluse. Die ungeheure Erregung wich von ihr. Sie wunderte sich selbst, wie leidenschaftslos sie auf einmal denken konnte, wie eiskalt und berechnend, wie logisch und konsequent.
Das ist ein Beweis, daß Alf lebt, dachte sie. Jörgi soll mich hindern, ihn zu suchen. Niemand weiß, was mit ihm geschehen wird, ob man ihn wirklich lebend zurückbringt, wenn ich umkehre – oder ob er überhaupt noch lebt in dieser Stunde, wo ich das Zeitungsblatt an meinem Herzen verstecke.
Was soll ich tun, schrie es in ihr. Mein Gott, hilf mir, was soll ich tun? Sie saß mit gefalteten Händen mitten im Zimmer und fühlte sich wie ausgebrannt.
Soll ich weiterfahren nach Ägypten? Soll ich umkehren und damit Jörgi retten? Es gibt ja jetzt nur eine einzige Entscheidung: Alf oder mein Kind.
O Gott, was soll ich tun?
Ihr Kopf sank auf die Tischplatte. So lag sie eine ganze Zeit, wie ohnmächtig, aber ihr Gehirn war zum Kampfplatz der widerstreitendsten Gefühle geworden.
Zurück … das war am stärksten in ihr. Zurück zu Jörgi. Das Kind brauchte die Mutter, und sie allein war es, die das Kind retten konnte – wenn sie auf den Mann verzichtete. Jörgi würde wieder freigelassen werden, sobald sie in Lübeck eintraf. Er war das stärkste Tau, das sie fesseln konnte; die dickste Mauer vor der Wahrheit, die sie nicht wissen sollte.
Zurück. Die Entscheidung war selbstverständlich. Welche Mutter läßt ihr Kind in Gefahr? Dieses Zurück aber bedeutete auch die endgültige Aufgabe Alfs. Dieses Zurück bedeutete: Er ist tot. Er wird nie wiederkommen. Ein Mensch ist für immer verschwunden.
Birgit sprang auf und lief an das Fenster. Über dem Meer stand die Nacht, das leise Plätschern der an den Strand spülenden Wellen war das einzige Geräusch.
»O Alf … Alf …«, stammelte Birgit und drückte die Stirn an die Scheiben. »Du mußt es verstehen … und du wirst es auch verstehen … Unser Jörgi … unser Kind … unser ein und alles auf dieser Welt … Leb wohl, Alf … Du weißt, wie ich dich liebe … aber Jörgi, unser kleiner, unschuldiger Jörgi …«
Ihre Stimme versagte. Sie brach vor dem Fenster in die Knie, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.
Wie lange sie so gekniet hatte, wußte sie nicht. Sie schrak hoch, als sie auf der Treppe Schritte hörte. Dann klopfte es auch schon. Birgit sprang auf und stützte sich an der Wand ab. Zuraida. Die Stimme der unerträglich gewordenen Gegenwart.
»Wollen Sie nicht herunterkommen zu uns?« fragte das Mädchen und klopfte noch einmal an die Tür.
Birgit drückte die Hände gegen das Herz. Sie bemühte sich, völlig unbefangen zu antworten. Es gelang ihr so gut, daß sie sich selbst darüber wunderte.
»Danke, Zuraida. Ich habe mich etwas hingelegt. Oder ist das Schiff schon da?«
»Nein. Noch nicht. Gut, schlafen Sie noch ein wenig. Ich wecke Sie, sobald wir das Schiff sehen. Haben Sie eigentlich gar keinen Hunger?«
»Nein. Ich bin wie zerschlagen von der Fahrt.« Birgit versuchte sogar ein Lachen. »Ich weiß, ich bin eine ziemlich schwächliche Abenteuerin.«
»Es ist alles nur Gewohnheit. Und im übrigen bin ich ja immer bei Ihnen. Schlafen Sie gut, Birgit.«
»Danke, Zuraida.«
Leise Schritte, wieder die Treppe hinab. Das Klappen einer Tür unten im Flur.
Birgit Brockmann wartete und legte das Ohr an die Tür. Ganz schwach hörte sie Musik. Im Wohnzimmer vertrieben sich Zuraida, Bürgermeister Renato und der Chauffeur die Stunden bei der Musik aus einem Kofferradio.
Ich bin ja immer bei Ihnen … Dieser letzte Satz Zuraidas hatte Birgit plötzlich gezeigt, was sie in Wahrheit war: Eine Gefangene des Geheimdienstes, dem alles daran lag, Alf Brockmann aufzuspüren und aus Ägypten wegzuholen. Es hatte gar keinen Sinn, Zuraida das Zeitungsblatt zu zeigen, sie anzuflehen, umzukehren nach Lübeck, alles aufzugeben und Jörgi zu retten. Das Gegenteil würde geschehen. Man würde sie Tag und Nacht bewachen, sie, die zur Schlüsselfigur im Ringen um Alf Brockmann geworden war, und man würde den ausgearbeiteten Plan ablaufen lassen, ohne Rücksicht darauf, ob Jörgi dabei geopfert werden müßte oder nicht.
Birgits Entschluß kam so plötzlich wie ihre Erkenntnis, nur ein Spielball von Intrigen und Machtkämpfen zu sein.
Flüchten, dachte sie. Heute noch, in dieser Nacht. Zunächst irgendwohin. Nach Norden oder nach Süden, das ist völlig gleichgültig. Nur weg von diesem kaum begonnenen Abenteuer, nur sich verbergen vor allen
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