Nächte des Schreckens
versucht Chartier, sich ihrer zu bemächtigen, doch sie hat längst die Flucht ergriffen. So schnell sie kann, stürzt sie die Treppe hinunter, als er sie auch schon eingeholt hat und ihr einen Fausthieb in die Magengrube versetzt. Bewußtlos sinkt sie nieder.
Das ist allerdings auch besser für sie, denn sonst hätte sie gehört, wie ihr Peiniger im Geschirrschrank wühlt und dabei vor sich hin grummelt: »Wo zum Teufel ist das verdammte Messer, damit ich ihr den Rest geben kann?«
Ein junges Mädchen als Opfer einer betrunkenen Bestie... Was an diesem 16. März 1904 nicht weit von dem Dörfchen Brevielle im Departement Manche geschieht, scheint ein Mord zu sein wie viele andere. Und dennoch nehmen die Dinge genau von dem Moment an eine höchst eigenartige Entwicklung...
Zwei Wochen später begibt sich der Chef der örtlichen Gendarmerie, der Brigadier Adrien Ferrand, in Begleitung von zwei seiner Männer zum Bauernhof von Antoine Chartier.
In Breville kursieren seit einiger Zeit Gerüchte: Die junge Emilie Janvier, die vor sechs Monaten als Magd in Antoine Chartiers Dienste getreten ist, wird vermißt. Bei einem Trunkenbold wie Antoine muß man mit dem Schlimmsten rechnen.
Dieser bewohnt den Bauernhof übrigens nicht allein. Sein Onkel, Felix Chartier, lebt bei ihm, und besagter Felix ist eine alles andere als vertraueneinflößende Person. Er hat gerade eine zehnjährige Zuchthausstrafe verbüßt, nachdem er einen Mann getötet hatte, mit dem er in einem Cabaret in Streit geraten war. Wie um alles in der Welt war ein so hübsches junges Mädchen wie Emilie Janvier, die sogar einen Pfarrer auf andere Gedanken hätte bringen können, wie war sie nur auf die verrückte Idee gekommen, sich ganz allein diesen beiden Rohlingen auszuliefern? Manche Menschen waren selbst für ihr Schicksal verantwortlich!
Der Brigadier Ferrand befragt Antoine Chartier: »Es sieht so aus, als ob Emilie verschwunden ist, oder?«
»Nun ja, eines Tages ist sie einfach fortgegangen...«
Der Polizist zwirbelt seinen Schnurrbart und meint: »Ich würde gern einen Blick in ihre Kammer werfen.«
Der Brigadier und seine Männer folgen Antoine in das obere Stockwerk. Im Flur begegnen sie Felix Chartier. Dieser sieht sie gleichmütig an und schlurft dann mit gebeugtem Rücken und starrem Blick davon.
Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis ist der alte Chartier nicht mehr derselbe. Es heißt, er habe sich dort irgendeine Krankheit geholt, und er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Als der Polizeibeamte Emilies Kammer besichtigt, stellt er mit Genugtuung fest, daß es genau so ist, wie er erwartet hatte: Alles deutet darauf hin, daß sie nicht etwa fortgegangen, sondern verschwunden ist.
Das einzige Kleid des jungen Mädchens hängt an einem Nagel, und ihre wenigen persönlichen Besitztümer sind noch vollzählig vorhanden. Auf einer Kiste neben ihrem Bett, die ihr als Nachttisch diente, liegt ein Kalenderbuch, das auf der Seite des 16. März aufgeschlagen ist.
Der Gendarm hält Antoine Chartier das Beweisstück unter die Nase: »Das alles werden Sie mir erklären müssen. Also los, folgen Sie uns, und nehmen Sie den Onkel gleich mit...«
Auf dem Polizeirevier leugnen Antoine und Felix Chartier heftig. Das junge Mädchen sei fortgegangen, weil sie sich mit Antoine gestritten habe. Wenn sie ihre persönlichen
Sachen zurückgelassen habe, so sei das ihre Angelegenheit. Nichtsdestotrotz werden Onkel und Neffe festgenommen und ins Gefängnis von Saint-Lô gebracht, wo Felix Chartier jedoch nur wenige Stunden bleibt. Der alte Mann, dessen Geisteszustand schon recht labil war, hatte es offenbar nicht ertragen können, erneut eingesperrt zu werden, und war endgültig wahnsinnig geworden. Man hat ihn in die Nervenheilanstalt überführt.
So erscheint Antoine allein vor dem Untersuchungsrichter Millet, der versuchen will, ein Geständnis aus ihm herauszuholen. Was der Bauer über den Zustand seines Onkels erfahren hat, scheint ihn sehr schockiert zu haben. Als gebrochener Mann betritt er das Büro des Untersuchungsrichters.
»Ja«, gesteht er sofort, »Felix und ich haben die Kleine getötet. Ich hatte getrunken und wußte nicht mehr, was ich tat...«
Und Antoine Chartier berichtet, was sich in jener dramatischen Nacht des 16. März zugetragen hat: »Sie hörte nicht auf, mich zu provozieren, bis ich endgültig genug davon hatte. Ich lief ihr hinterher und gab ihr einen Hieb in den Magen. Sie fiel ohnmächtig zu Boden. Dann holte ich
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