Nächte des Schreckens
angerichtet.
Im Laufe einer gründlichen klinischen Untersuchung fand man heraus, daß die von Antoine geschilderte Mordszene eine sogenannte falsche Erinnerung darstellte, wie man sie häufig bei Alkoholikern im fortgeschrittenen Stadium antrifft.
In seinem gestörten Erinnerungsvermögen glaubte Antoine tatsächlich, die Dinge seien so geschehen, wie er behauptete. Für ihn war der Onkel wirklich aus seiner Kammer herausgekommen, und sie hatten wirklich später den Leichnam in den Weiher geworfen. Er glaubte so sehr daran, daß ihn nicht einmal der Anblick seines angeblichen Opfers vom Gegenteil überzeugen konnte. Selbstverständlich wurde Antoine Chartier sofort wieder auf freien Fuß gesetzt. Bei der Verhandlung verurteilte man ihn zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung und zu hundert Francs Geldstrafe wegen Körperverletzung und falscher Zeugenaussage, was der gesetzlichen Mindeststrafe entsprach. Dann kehrte er auf seinen Bauernhof zurück und nahm dort seine Arbeit wieder auf.
Ob die Psychiater wohl dieselbe Diagnose gestellt hätten, wenn Emilie nicht zurückgekehrt wäre? Und ob sie wohl vor dem Schwurgericht in Saint-Lô erklärt hätten, daß das Geständnis des Angeklagten aufgrund seines Geisteszustands nicht den geringsten Wert besaß und er zur fraglichen Zeit ohnehin unzurechnungsfähig gewesen war?
Man tut gut daran, dies zu glauben, so wie man besser auch daran glaubt, daß all jene, die aufs Schafott gekommen sind, tatsächlich schuldig waren!
D ER T EUFEL VON S HEFFIELD
16. Mai 1893. Lächelnd betrachtet sich Wilbur Barnett in dem zerbrochenen Spiegel seiner schäbigen Behausung in einem Arbeiterviertel der englischen Industriestadt Sheffield. Ja, seine Aufmachung ist perfekt! So kann er sich ans Werk machen, so kann sich der >Teufel von Sheffield< aus seinem Versteck wagen!
Wilbur Barnett ist gerade erst zwanzig Jahre alt, und doch hat er vom Leben schon eine ganze Menge mitbekommen, in einer Umgebung, wie sie Dickens in seinen Romanen beschreibt: Nachdem er ein paar Jahre zur Schule gegangen war, hatte er sechs Monate lang im Bergwerk gearbeitet wie sein Vater. In dieser Zeit hat er all die Schrecken eines solchen Daseins gründlich kennengelernt und lebt seitdem mehr oder weniger auf der Straße und vagabundiert umher. Wilbur Barnett wird niemals ein echter Kumpel werden, o nein! Er ist ein Dieb, doch kein Dieb wie die anderen! Um nicht erkannt zu werden, färbt er sich das Gesicht mit schwarzer Schuhwichse, und diese an und für sich eher harmlose Idee hat schon spektakuläre Wirkungen erzeugt. Bis jetzt hat er nur kleinere Diebstähle verübt, doch dabei ist er von mehreren Zeugen gesehen worden. Diese waren von seinem furchteinflößenden Aussehen so sehr beeindruckt, daß sie der Polizei allerlei wirre Beschreibungen des Täters gaben.
Mittlerweile ist die Öffentlichkeit wegen des Falles sehr aufgebracht, zumal sich die Sensationspresse der Sache angenommen hat. Sie hat dem Dieb den Beinamen >der Teufel von Sheffield< gegeben...
Um ehrlich zu sein: Wilbur hat noch einen anderen Grund, sich bis zur Unkenntlichkeit zu schminken: Ohne die schwarze Farbe wäre sein Gesicht nämlich fast noch schrecklicher anzusehen. Er hat eine platte, fast eingedrückte Nase, hervorstehende Augen und häßliche, wulstige Lippen.
Da er den Menschen also in jedem Falle Angst macht, zieht er es vor, sich unter dieser Maske zu verstecken. Für ihn selbst ist das weniger gefährlich, und außerdem schmeichelt es seiner Eigenliebe...
Inzwischen ist es Abend geworden. Wilbur Barnett agiert stets nur bei Dunkelheit. Er streicht jetzt an den Mauern entlang, versteckt sich hinter einem schützenden Hausvorsprung, sobald ein Passant auftaucht, und schreitet dann schnell seinem Ziel entgegen: dem Laden eines Trödlers. Während eines Erkundungsganges durch das Viertel hat er herausgefunden, daß die hintere Ladentür nicht richtig schließt. Er erhofft sich von dieser nächtlichen Unternehmung zwar nicht viel mehr, als ein paar alte Kleider zu erbeuten, aber das wird ihm immerhin einige Schillinge einbringen.
Der junge Mann bewegt sich im Dunkeln vorwärts, ohne von jemandem gesehen zu werden. Seine genaue Ortskenntnis kommt ihm dabei sehr zu Hilfe. Er weiß genau, daß er sich notfalls in einem verlassenen Innenhof oder auf einem unbebauten Stück Land verstecken kann.
Der Diebstahl selbst läßt sich mühelos bewerkstelligen. Der Übeltäter mit dem schwarzen Gesicht greift sich die erstbesten
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