Nächte des Schreckens
können!
»Aber Sie müßten doch tot sein!« stammelt er. »Man hat Sie doch ermordet!«
Bestürzt antwortet das junge Mädchen: »Man hat mich für tot gehalten? Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich eher gekommen.«
Inzwischen hat der Beamte seine Fassung wiedererlangt. »Allerdings hat man Sie für tot gehalten«, fährt er sie an, »und dafür riskiert Antoine Chartier jetzt den Kopf! Sie werden mir jetzt alles erzählen, und zwar ein bißchen plötzlich!«
Emilie Janvier sinkt auf einen Stuhl und beginnt: »Ich schwöre Ihnen, daß ich davon keine Ahnung hatte. Es war am 16. März...
Antoine Chartier hatte mir einen Fausthieb versetzt, und ich fiel zu Boden. Er glaubte, ich sei ohnmächtig geworden. Dann ging er zum Wandschrank, und ich hörte ihn murmeln: >Wo ist das verdammte Messer, damit ich ihr den Rest geben kann?< In dem Moment nahm ich die Beine in die Hand und raste davon. Ich lief immer geradeaus durch den Wald, bis ich morgens zu einem Bauernhof kam. Die Leute dort nahmen mich auf, ohne viel zu fragen, und ich blieb drei Tage lang bei ihnen. Dann traf ich einen Viehzüchter, der zum Markt in Bayeux wollte, und er war bereit, mich mitzunehmen. In Bayeux wohnt meine alte Amme. Sie hat mich versteckt, denn ich traute mich nicht, zurückzukehren. Ich hatte Angst vor Antoine, verstehen Sie? Schließlich sagte ich mir aber, daß man sich vielleicht Sorgen um mich machte...«
Ferrand schlägt mit der Faust auf den Tisch.
»Was ist das für eine unglaubliche Geschichte? Und was ist mit dem Onkel? Hat er etwa nicht versucht, Sie zu erwürgen?«
Höchst überrascht erwidert Emilie Janvier: »Aber nein, keineswegs. Er hat mir nicht das geringste getan. Er ist gar nicht aus seiner Kammer herausgekommen.«
Adrien Ferrand setzt eine strenge Miene auf: »Dergleichen gefällt mir überhaupt nicht. Sie werden das alles morgen dem Untersuchungsrichter erzählen, und bis dahin behalte ich Sie hier.«
Am folgenden Tag wird die junge Dienstmagd nach Saint-Lô gebracht. Der Untersuchungsrichter Millet läßt sich die ganze Geschichte noch einmal erzählen und meint dann in ungläubigem Ton: »Aber warum beschuldigt er sich dann? Warum sollte er eine Lüge erfunden haben, die ihn den Kopf kosten kann?«
Der Richter beschließt, sich auf der Stelle Gewißheit zu verschaffen, und läßt Antoine Chartier vorführen, um ihn seinem angeblichen Opfer gegenüberzustellen.
Eine Viertelstunde später erscheint der Bauer in Handschellen erneut vor dem Untersuchungsrichter. Als er Emilie erblickt, schreit er: »O nein! Das kann doch nicht wahr sein! Das ist nur ein böser Traum! Das ist sie nicht wirklich!«
Entsetzt weicht er zurück. Er gerät derart außer sich, daß mehrere Beamte ihn bändigen müssen.
Richter Millet wartet, bis er sich etwas beruhigt hat, und fragt ihn dann: »Weshalb haben Sie sich selbst beschuldigt, am Mord an Ihrer ehemaligen Magd beteiligt gewesen zu sein?«
Chartier schüttelt den Kopf. Mit starrem Blick erwidert er: »Weil es wahr ist!«
Der Richter hat so etwas noch nie erlebt. Er versteht überhaupt nichts mehr, und langsam wird er wütend.
»Wollen Sie sich über mich lustig machen? Wollen Sie sich über die Justiz lustig machen?«
Während Chartier es nach wie vor vermeidet, seine frühere Bedienstete anzusehen, beteuert er: »Aber ich schwöre Ihnen, daß sich alles so abgespielt hat, wie ich es Ihnen erzählt habe, Herr Richter! Zuerst habe ich Emilie geschlagen, und dann bin ich das Messer holen gegangen, und in dem Moment ist Onkel Felix aufgetaucht und hat sie erwürgt. Hinterher haben wir den Leichnam in den Weiher geworfen.« Der Untersuchungsrichter versucht noch immer zu begreifen. Vielleicht ist das junge Mädchen diejenige, die lügt. Als man sie ins Wasser geworfen hatte, war sie noch nicht tot. Sie konnte sich in Sicherheit bringen und hat hinterher diese Geschichte erfunden, um ihren ehemaligen Brotgeber zu retten, in den sie trotz allem verliebt war. So könnte es gewesen sein...
Auf jeden Fall sagt einer von beiden nicht die Wahrheit, und er schwört sich, daß er herausfinden wird, wer es ist. Doch die Wahrheit wird erst von den Psychiatern entdeckt, die Antoine Chartier später untersuchen. Als die Ärzte ihn nach seiner Vergangenheit ausfragten, erfuhren sie, daß er sich seit seinem zwölften Lebensjahr jeden Tag zu betrinken pflegte. Inzwischen war er fünfunddreißig, und in dreiundzwanzig Jahren hatte der Alkohol in seinem Gehirn beträchtlichen Schaden
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