Nächte des Schreckens
überrascht und verlor die Kontrolle über den Wagen, so daß wir gegen einen Baum prallten.«
Ehrhard tastet mit der Hand über die schwarze Binde.
»Ich erlitt einen Schock. Ich konnte nicht mehr richtig sehen, ich war aber noch bei Bewußtsein. Martin rührte sich nicht mehr neben mir. Ich durchwühlte seine Taschen, und als ich das Blatt Papier ertastete, nahm ich es an mich. Ich stieg aus und bewegte mich auf allen vieren vorwärts, bis ich die Straßenböschung erreicht hatte. Mit den Fingern grub ich eine Kuhle in die Erde und versteckte mein Schuldbekenntnis darin.«
Erschöpft läßt sich Ehrhard in die Kissen zurücksinken. »So ist es gewesen. Ich habe Ihnen alles gesagt, und trotzdem fühle ich mich nicht erleichtert. Ich weiß nicht, wozu man mich verurteilen wird, aber selbst wenn es eine lebenslängliche Gefängnisstrafe ist, habe ich meine eigentliche Strafe bereits erhalten. Doktor Geiler hat sie mir auferlegt — durch Martins Augen!«
Der Beamte läßt sich davon nicht beeindrucken. Er kehrt zu den konkreten Fakten zurück: »Und was war mit diesem Autofahrer, der Sie gefunden hatte? Hatte er mit der Sache etwas zu tun?«
Ehrhard wirkt jetzt sehr müde.
»Nein, wieso sollte er? Das muß jemand gewesen sein, der wie viele andere seine Zeit nicht mit der Polizei verschwenden will.«
Die bei Franz Ehrhard durchgeführte Augentransplantation war ein voller Erfolg. Er konnte fast wieder ganz normal sehen, als er im Januar 1958 vor dem Münchner Schwurgericht erschien. Die besonderen Umstände, die zu seinem Geständnis geführt hatten, beeindruckten die Geschworenen zweifellos, da sie ihn nur zu zehn Jahren Gefängnis verurteilten.
Doch Ehrhard fürchtete weder das Gericht noch den Schuldspruch, wie auch immer dieser ausfallen mochte. Seine eigentliche Strafe war ihm durch Hermann Geiler zuteil geworden, ohne daß dieser davon gewußt hatte.
Diese Strafe zu ertragen, war er nicht imstande. Im Juni 1958, sechs Monate nach seiner Verurteilung, fand man ihn erhängt in seiner Zelle. Er hatte die Augen weit offen, die Augen seines Opfers.
Ob sie ihm bis ins Grab gefolgt sind?
P AMELAS N EUJAHRSFEST
Pamela Wright schiebt die Kapuze ihres Pelzanoraks zurück, so daß man ihr wunderhübsches Gesicht und die blonden Haare sehen kann. Mit ihren fünfunddreißig Jahren ist sie der Inbegriff der modernen, selbstbewußten Amerikanerin. Sie ist geschieden, hat zwei Kinder und betreibt in Denver, Colorado, eine Praxis als Gynäkologin. Pamela Wright atmet tief durch, und in der Kälte wird ihr Atem sichtbar. Diese ungewöhnlichen Ferien mißfallen ihr bis jetzt keineswegs. Sie hatte sich ganz spontan dazu entschlossen, als sie in einer medizinischen Fachzeitschrift die Anzeige las: »Verbringen Sie Silvester und Neujahr in Grönland! Entdecken Sie das Leben der Eskimos! Beschränkte Teilnehmerzahl von zehn Personen.«
Die Reise war sündhaft teuer, aber sie besaß die Mittel dazu und verspürte darüber hinaus den Impuls, ihrem Leben eine ganz neue Richtung zu geben.
So kommt es, daß sie sich am 31. Dezember 1979, nach einer Fahrt mit dem Hundeschlitten, nun an dem Ort befindet, an dem sie alle zusammen die Silvesternacht verbringen sollen: in einem Iglu, das man eigens für diesen Zweck in der Nähe der Stadt Thule aufgebaut hat.
Interessiert betrachtet Pamela die Konstruktion ihrer Unterkunft, die eine große Kuppel bildet. Es stimmt tatsächlich, daß es in einem Iglu, entgegen aller Erwartung, wirklich nicht kalt ist, was Pamelas Reisegefährten jetzt ebenfalls bemerken. Auch sie stammen allesamt aus wohlhabenden Verhältnissen: ein Rechtsanwalt, ein Architekt, ein Vorstandsvorsitzender, ein Ehepaar, das ein gutgehendes Geschäft betreibt, sowie die Witwe eines Industriellen.
Die Ankunft in ihrem Quartier und die Vorfreude auf die Silvesternacht versetzen alle in ausgelassene Stimmung. Tommy Moore öffnet eine Flasche Bourbon. Er ist ein Mann um die Dreißig mit sportlichem Aussehen und trägt die Verantwortung für die Gruppe. Er füllt die Gläser und scherzt: »Wenn Sie Eis dazu wollen, brauchen Sie sich nur zu bedienen!«
Lachend kommen die Teilnehmer seiner Aufforderung nach. Tommy fällt dazu gleich ein weiterer Scherz ein: »Das ist bestimmt das erste Mal, daß Sie Ihr Haus trinken können!«
Schallendes Gelächter ist die Antwort. Der Witz war zwar nicht übermäßig geistreich, doch ist die Stimmung auf dem Höhepunkt.
Pamela und die übrigen Gäste stoßen miteinander an,
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