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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Demütigste an mir, ahnte sie.
    Das Schlimmste war, dass sie alles, was sie gedacht hatte, auslöschen konnte. Einmal gedacht, waren ihre Gedanken wie Statuen im Garten, sie sah sie an, während sie durch den Garten schritt, und folgte weiter ihrem Weg.
    An diesem Tag war sie fröhlich, und auch schön. Ein bisschen Fieber hatte sie auch. Warum diese Romantisierung: ein bisschen Fieber? Aber ich habe wirklich Fieber: die Augen glänzen, diese Kraft und diese Schwäche, unregelmäßige Herzschläge. Wenn die leichte Brise, die Sommerbrise, sie umstrich, erzitterte sie am ganzen Körper vor Kälte und Hitze. Und dann überstürzten sich ihre Gedanken, sie konnte das Phantasieren nicht mehr aufhalten. Das ist weil ich noch so jung bin, überlegte sie, und immer, wenn ich berührt oder nicht berührt werde, spüre ich, dachte sie. Jetzt zum Beispiel an blonde Bäche denken. Eben gerade weil es keine blonden Bäche gibt, verstehst du? so flieht man. Ja, aber die Goldstreifen der Sonne, die sind in gewisser Weise blond … Also habe ich mir das in Wirklichkeit gar nicht ausgedacht. Immer der gleiche Sturz: weder das Böse noch die Phantasie. Im ersten, im endgültigen Mittelpunkt ein einfaches Gefühl ohne Eigenschaften, so blind wie ein rollender Stein. In der Phantasie – und nur sie hat die Kraft des Bösen – bloß die vergrößerte, verwandelte Vision: darunter die gleichmütige Wahrheit. Man lügt und stürzt in die Wahrheit. Selbst wenn sie sich in ihrer Freiheit fröhlich für neue Wege entschied, erkannte sie sie später wieder. Frei sein hieß am Ende doch, sich selbst zu folgen, und da kam man wieder auf den vorgezeichneten Weg. Sie würde nur das sehen, was sie schon in sich trug. Verloren also war die Lust am Phantasieren. Und der Tag, an dem ich weinte? – auch da gab es ein gewisses Bedürfnis zu lügen –, ich machte Mathematikaufgaben und plötzlich spürte ich die erschreckende, kalte Unmöglichkeit des Wunders. Ich sehe durch dieses Fenster, und die einzige Wahrheit, die Wahrheit, die ich diesem Mann, wenn ich ihn anspreche, nicht sagen könnte, ohne dass er vor mir die Flucht ergriffe, die einzige Wahrheit ist, dass ich lebe. Ich lebe einfach. Wirklich, ich lebe. Wer bin ich? Nun, das ist schon zu viel. Ich erinnere mich an die chromatische Studie von Bach und verliere den Verstand. Sie ist kalt und klar wie Eis, und dennoch kann man auf ihr schlafen. Ich verliere das Bewusstsein, aber das macht nichts, denn die größte Gelassenheit finde ich in der Täuschung der Sinne. Es ist eigenartig, dass ich nicht sagen kann, wer ich bin. Besser gesagt, ich weiß es nur zu gut, aber ich kann es nicht sagen. Vor allem habe ich Angst, es zu sagen, weil in dem Augenblick, in dem ich es auszusprechen versuche, ich nicht nur nicht ausdrücke, was ich empfinde, sondern, was ich empfinde, langsam zu dem wird, was ich sage. Oder wenigstens ist das, was mich zum Handeln treibt, nicht das, was ich empfinde, sondern das, was ich sage. Ich spüre, wer ich bin, und dieses Gefühl sitzt oben im Gehirn und auf den Lippen – vor allem auf der Zunge –, auf der Oberfläche der Arme und auch in meinem Körper, tief innen durchströmt es mich, aber wo, wo genau, kann ich nicht sagen. Es schmeckt grau, ein bisschen rötlich, in den alten Teilen ein bisschen bläulich und bewegt sich zähflüssig wie Gelatine. Manchmal wird es scharf und verletzt mich, wenn es mit mir zusammenstößt. Also gut, jetzt zum Beispiel an den blauen Himmel denken. Aber vor allem, woher kommt diese Gewissheit zu leben? Nein, es geht mir nicht gut. Niemand stellt sich doch diese Fragen und ich … Aber man muss nur schweigen, um, unter allen Wirklichkeiten liegend, die einzige, unbeugsame zu erkennen, die der Existenz. Und unter allen Ungewissheiten – die chromatische Studie – weiß ich, dass alles vollkommen ist, denn von Tonleiter zu Tonleiter ist sie dem vorbestimmten Weg in Bezug auf sich selbst gefolgt. Nichts entgeht der Vollkommenheit der Dinge, das ist mit allem so. Aber das erklärt doch nicht, warum es mich so bewegt, wenn Otávio hustet und die Hand so auf die Brust legt. Oder wenn er raucht und die Asche auf seinen Schnurrbart fällt, ohne dass er es merkt. Ach, Mitleid empfinde ich dann. Mitleid ist meine Form der Liebe. Des Hasses und der Verständigung. Es hält mich aufrecht gegen die Welt, so wie einer getrieben vom Begehren lebt, ein anderer von der Angst. Mitleid mit den Dingen, die ohne mein Wissen geschehen. Aber ich bin

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