Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
erinnern, warum ich sie derb genannt hatte. Aber so schlecht, dass ich sie etwa ganz vergessen hätte, war es dann auch wieder nicht. Ich sah sie noch vor mir, wie sie mit festen Schritten über den Sand lief, ihr Gesicht war verschlossen, abwesend. Alfredo, das Merkwürdige dabei war, dass es gar keinen Sand gegeben haben konnte. Und dennoch blieb dieses Bild hartnäckig, ließ keine Erklärung zu.«
Der Mann rauchte und lag dabei fast im Stuhl. Joana fuhr mit dem Fingernagel über den roten Lederbezug des alten Sessels.
»Einmal bin ich frühmorgens mit Fieber aufgewacht. Fast fühle ich jetzt noch die heiße Zunge wie einen trockenen, rauen Lappen im Mund. Du weißt, wie sehr ich mich davor fürchte, Schmerzen ertragen zu müssen, lieber verkaufe ich meine Seele. Nun, ich musste an sie denken. Unglaublich. Wenn ich mich nicht irre, war ich da schon zweiunddreißig Jahre alt. Mit zwanzig hatte ich sie kennengelernt, flüchtig. Und in einem solchen Augenblick der Angst musste ich – bei all den Freunden, die ich habe, und sogar dich hatte ich doch, wusste aber nicht, wo du warst –, in diesem Augenblick musste ich an sie denken. Es war schrecklich …«
Der Freund lachte:
»So was ist schrecklich, ja …«
»Du kannst dir das gar nicht vorstellen: Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so wütend auf andere ist, wirklich wütend, und die Menschen auch so verachtet. Und gleichzeitig war sie auch wieder so gut, auf eine spröde Art. Oder mache ich mir das nur vor? Ich mochte einfach ihre Art von Güte nicht: als ob sie sich über einen lustig machte. Aber ich gewöhnte mich daran. Sie brauchte mich gar nicht. Ich sie allerdings auch nicht. Aber wir lebten zusammen. Ich würde alles darum geben, wenn ich jetzt noch erfahren könnte, worüber sie eigentlich so viel nachdachte. So wie du mich hier siehst und mich kennst, würde ich dir an ihrer Seite wie ein Einfaltspinsel vorkommen. Und dann stell dir nur die Wirkung auf meine armselige, spärliche Familie vor: Es war, als hätte ich ihrem rosigen, üppigen Schoß – erinnerst du dich, Alfredo?« – die beiden lachten – »ja, als hätte ich den Pockenvirus gebracht, einen Ketzer, was weiß ich … Na ja, ich möchte ja selbst nicht, dass dieser Sprössling da nach ihr gerät. Und auch nicht nach mir, da sei Gott vor … Zum Glück habe ich den Eindruck, dass Joana ihren eigenen Weg gehen wird …«
»Und dann?«, fragte der Mann darauf.
»Dann … nichts. Sie starb, sobald sie konnte.«
Danach sagte der Mann:
»Sieh mal, deine Tochter ist schon fast eingeschlafen … Tu was Gutes und steck sie ins Bett.«
Aber sie schlief nicht. Wenn man nämlich die Augen nicht ganz zumachte und den Kopf zur Seite fallen ließ, dann war es ein bisschen so, als würde es regnen, alles verschwamm leicht. Genauso wenn sie sich hinlegte und das Laken hochzog, dann könnte sie eher einschlafen und würde das Dunkel nicht so schwer auf ihrer Brust spüren. Besonders heute, wo sie Angst vor Elza hatte. Aber vor der Mutter darf man keine Angst haben. Die Mutter war wie ein Vater. Während der Vater sie durch den Flur ins Zimmer trug, lehnte sie ihren Kopf gegen ihn und spürte den starken Geruch, der von seinen Armen kam. Sie sagte, ohne zu sprechen: nein, nein, nein … Um sich Mut zu machen, dachte sie: morgen, morgen zuallererst die lebendigen Hühner sehen.
Die letzte Sonne zitterte draußen in den grünen Zweigen. Die Tauben pickten auf der lockeren Erde herum. Ab und zu drangen die Brise und die Stille vom Schulhof her ins Klassenzimmer vor. Dann wurde alles schwereloser, die Stimme der Lehrerin wehte wie eine weiße Fahne.
»Und von da an lebten er und seine ganze Familie glücklich bis an ihr Lebensende.« Pause – die Bäume raschelten im Hof, es war ein Sommertag. »Schreibt eine Inhaltsangabe dieser Geschichte bis zur nächsten Stunde.«
Die Kinder hingen noch in Gedanken der Geschichte nach, sie regten sich langsam, mit unbeschwertem Blick und zufriedenen Mündern.
»Und was erreicht man, wenn man glücklich ist?« Ihre Stimme war ein scharfer, schlanker Pfeil.
Die Lehrerin sah zu Joana hinüber.
»Wiederhol die Frage …?«
Schweigen.
Die Lehrerin lächelte, während sie ihre Bücher zusammenräumte.
»Stell doch die Frage noch einmal, Joana, ich habe sie nur nicht richtig verstanden.«
»Ich möchte gern wissen: Nachdem man glücklich ist, was ist dann? Was kommt danach?«, wiederholte das Mädchen hartnäckig.
Die Frau sah sie überrascht an.
»Was
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