Naios Begierde (Hüter der Elemente) (German Edition)
Verurteilte war, konnte es im schlimmsten Fall einen ganzen Tag dauern.
Sie verließen den Tempel und Naios musste seine Augen zuerst vor dem gleißenden Licht schützen. Sie schritten über eine Wiese aus rosa Moos und silbrigen Blumen, bis sie zum Baum des Lebens kamen. Naios warf sich auf den Boden, auf dem Bauch liegend, die Arme ausgestreckt und wartete.
„Du bist bereit, deine Strafe anzunehmen?“, hörte er die Stimme der Allwissenden Mächte.
„Ja, ich bin bereit.“
„Dann erhebe dich und lege deine Kleider ab.“
Naios zog sich die weiße Robe über den Kopf. Es war die einzige Kleidung, mit der er sich dem Baum des Lebens nähern durfte, doch sterben musste er so, wie er geboren wurde. Nackt.
Das Mädchen führte ihn durch ein kleines Wäldchen, dann erreichten sie den Fluss der Läuterung. Sechs weiß gekleidete Priester und sechs ebenfalls weiß gekleidete Priesterinnen standen am Ufer. Er hielt in ihrer Mitte und ließ sich von ihnen mit dem blauen Öl der Peinblume einölen. Das Öl war dafür, seine Schmerzempfindlichkeit zu erhöhen. Allein die massierenden Bewegungen der Hände auf seinem Körper, die das Öl verteilten, ließen ihn in Agonie aufstöhnen. Die Priester und Priesterinnen trugen Handschuhe, um der Wirkung des Öls zu entgehen.
Als das Öl seinen ganzen Körper mit einem blauen Schimmer bedeckte, traten die Priester und Priesterinnen zurück. Er atmete tief durch und wappnete sich für das, was vor ihm lag. Ein paar Stunden Schmerz, dann würde es vorbei sein. Immer noch besser, als ein Leben ohne Michelle leben zu müssen oder schlimmer noch, als zu wissen, dass sie diesen furchtbaren Weg gehen musste. Er war dankbar, dass die Allwissenden Mächte ihren Handel ausgeschlagen hatten.
Er schritt, ohne anzuhalten in das grünliche Wasser. Sofort waren die Skritter da und begannen, mit ihren Zähnen, an ihm zu nagen und zu zerren. Ihre Berührung sandte höllische Schmerzen durch seinen Leib und er biss die Zähne zusammen, ging aufrecht weiter hinein. Er wollte sich nicht die Blöße geben, zu straucheln, wie so viele es taten, vom Schmerz überwältigt. Er wusste nicht, warum, doch es war ihm wichtig, so gut, wie möglich zu sterben. Doch bei allem, was heilig war, die Schmerzen waren gewaltig. Er keuchte, doch er blieb aufrecht, bis die Fluten ihn verschlangen und sein ganzer Körper von den widerlichen Skrittern bedeckt war.
***
König Apanos betrat nackt das Allerheiligste und warf sich zu Füßen vom Baum des Lebens in das Moos. Er streckte die Arme aus und wartete. Quälende Minuten verstrichen, ehe er die tiefe Stimme der Allwissenden Mächte hörte.
„Du kommst in unseren Tempel, wo doch jetzt die Zeremonie stattfinden soll? Was ist dein Begehr?“
„Ihr Allwissenden Mächte, möget Ihr mir verzeihen. Die Zeremonie kann nicht stattfinden. Die Auserwählte brach vor einer halben Stunde zusammen und ist nicht mehr ansprechbar. Ich fürchte, Eure Heiligkeit, dass ihr Herz gebrochen ist. Ich flehe Euch an, tut mit mir, was Ihr wollt, doch gebt meiner Schwiegertochter ihren Gefährten zurück. Sie kann nicht leben ohne ihn. Bitte habt Mitleid. Ich flehe Euch an. Erbarmt Euch. Ich weiß, dass Ihr alles bewirken könnt. Bitte.“
„Euer Sohn befindet sich bereits im Strom der Läuterung. Er hat sein Schicksal mit großem Mut und mit Würde angetreten. Du kannst stolz auf ihn sein.“
„Aber es ist nicht zu spät. Ich weiß, dass Ihr ihn noch retten könnt. Nichts ist unmöglich für Euch.“
***
Michelle lag auf einer Liege. Das Licht um sie herum war hell, aber seltsam milchig, als wäre da eine Art Nebel im Raum. Sie fühlte sich leer. War sie tot? War dies, was danach kam? Was war mit ihrem Kind? Sie spürte eine Wärme in ihrem Unterleib. Ihr Blick richtete sich nach innen. Sie sah ein kleines Licht tief in ihrem Bauch. Es flackerte leicht und sendete warme, beruhigende Wellen aus. Sie wusste sofort, was es war. Ihr Sohn. Er lebte? Aber dann konnte sie auch nicht tot sein. Langsam bewegte sie den Kopf zur Seite, um sich in dem Raum umzusehen. Sie meinte, ihr Herz bliebe stehen. Da war eine Liege neben ihr und Naios lag darauf. Er hatte die Augen geschlossen, sein Körper war mit unzähligen, hässlichen Bisswunden übersät. Seine Haut hatte einen seltsamen blauen Schimmer. Ein Ausdruck von solcher Agonie lag auf seinen Zügen, dass es ihr das Herz zerriss.
„Was haben sie mit dir gemacht, Liebling? Oh mein Gott! Was haben sie dir angetan?“, schluchzte sie.
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