Naios Begierde (Hüter der Elemente) (German Edition)
unser Sohn geboren wird, damit ich ihn einmal in meinen Armen halten kann. Ich möchte dich noch einmal in meinen Armen halten dürfen, dich noch einmal lieben. Aber du lebst. Ihr lebt. Dafür lohnt es sich zu sterben. Es ist nicht der Tod, den ich fürchte. Es wäre nicht so schlimm, wenn ich nur meinen Sohn vorher einmal sehen dürfte. Es tut so weh, dass ich weiß, ich werde diese Chance nie bekommen.“
Ich verstehe nicht, was du redest. Ich bin tot. Wieso sagst du, dass ich lebe? Dass wir leben? Dein Sohn? Unser Sohn? Was meinst du damit? Wieso sagst du, dass du sterben musst? Naios, was geht hier vor?
Wenn sie nur sehen könnte, oder fühlen. Doch alles, was sie konnte, war hören. Sie wusste nicht, wo sie war, wo Naios war. Sie wollte ihm so viel sagen, so viel fragen, doch scheinbar konnte er sie nicht hören. Zeit verstrich, sie wusste nicht, wie viel. Sie hörte ihn weinen, hin und wieder murmelte er ihren Namen oder sagte ihr, wie sehr er sie liebte und wie leid ihm alles tat. Dann hörte sie plötzlich eine andere, tiefe Stimme.
„Wir sind gekommen, dich zu holen“, sagte die Stimme.
„Nein“, hörte sie Naios leise schluchzen. „Bitte. Ich kann sie nicht verlassen. Was ist mit ihr? Was geschieht mit ihr? Warum ist sie bewusstlos?“
„Sie wird erwachen, wenn sie in Aquanien ist. Deine Eltern werden sich um sie und das Kind kümmern. Dein Vater hat darum ersucht, dich noch einmal sehen zu dürfen. Am Tag der Zeremonie wirst du die Gelegenheit bekommen, deine Eltern noch einmal zu sehen, ehe du sterben wirst.“
Nein! Was redest du da. Warum willst du ihn sterben lassen. Wer bist du? Nein! Nein! Nein!
„Darf ich Michelle auch noch einmal sehen? Bitte!“
„Nein! Es wäre nicht gut für sie und für das Kind.“
„Bitte, Ihr Allwissenden Mächte, seid gnädig. Gewährt ihm diesen letzten Wunsch“, hörte sie eine andere, männliche Stimme, die sie nicht kannte.
„Wir haben unsere Entscheidung getroffen, Humos. Wir wissen, dass Naios dein Freund ist, doch er hat sich schwerer Vergehen schuldig gemacht. Wir haben ihm diese Stunde mit seiner Auserwählten gewährt. Mehr können wir nicht tun. Und jetzt nehmen wir ihn mit, bis zum Tag der Zeremonie.“
Nein! Nehmt ihn mir nicht weg. Bitte nehmt ihn mir nicht weg. Wer auch immer du bist, bitte nimm mir meinen Liebsten nicht weg. Bitte! Bitte!
Dann war alles still und die Schwärze um sie herum wurde schwer und dick. Sie ertrank in dieser zähflüssigen Dunkelheit, bis nichts mehr war.
***
„Tochter. Du musst etwas essen“, erklang die warme Stimme von Isobell, der Mutter von Naios.
Michelle war seit zwei Tagen in Aquanien. Der König und die Königin hatten sie liebevoll empfangen, wenngleich alles von einer tiefen Trauer überschattet war. Immerhin würden sie in Kürze ihren Sohn verlieren. Man hatte ihr auf ihr hartnäckiges Flehen hin, die ganze Sache erklärt. Michelle fühlte sich wie tot. Wegen ihr musste der Mann, den sie liebte, sterben. Es war alles ihre Schuld.
„Ich … ich kann nichts essen“, sagte sie schwach.
„Denk an deinen Sohn, Michelle. Er braucht Nahrung. Bitte iss etwas.“
„Ich kann nicht“, schluchzte Michelle. „Ich … ich will mit den Allwissenden Mächten sprechen. Ich muss diesen Wahnsinn verhindern. Naios darf nicht sterben. Es ist alles nur meine Schuld.“
„Es ist nicht deine Schuld, Kind. Niemand gibt dir die Schuld und du solltest es auch nicht. Aber wenn deinem Kind etwas zustößt, weil du die Nahrung verweigerst, dann wirst du Schuld sein. Ich verstehe deinen Schmerz, aber du
musst
jetzt an deinen Sohn denken.“
„Ich werde essen. Aber ich will mit den Allwissenden Mächten sprechen.“
„Das wird nichts bringen. Sie haben ihre Entscheidung getroffen.“
„Ich muss es versuchen!“
Isobell seufzte.
„Nun gut. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber erst wirst du etwas essen.“
Am Nachmittag kam Apanos, der Vater von Naios, in Michelles Gemächer.
„Tochter.“
„Vater“, murmelte Michelle mit gesenktem Kopf.
Apanos trat näher und legte seine großen Hände auf ihre Schultern.
„Tochter, ich habe den Auftrag, dich zu den Allwissenden Mächten zu bringen. Dein Wunsch auf Gehör wurde gewährt. Allerdings wird die Zeremonie und … Naios Tod morgen wie geplant verlaufen. So hat man mir gesagt.“
„Morgen. Aber ich dachte, dass wir eine Woche hätten.“
„Bei uns ist jeder Tag wie zweieinhalb eurer Tage.“
„Oh! Das hatte ich vergessen.“
„Komm
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