Naios Begierde (Hüter der Elemente) (German Edition)
Tochter. Man lässt die Allwissenden Mächte nicht warten.“
Sie folgte dem König durch den Palast in eine Art Kapelle. In der Mitte der Kapelle wuchs ein hoher Baum. Seine silbrigen Blätter raschelten und glitzerten. Der Boden der Kapelle war mit einer Art rosafarbenem Moos bedeckt, auf dem kleine, silberne Blumen wuchsen.
Sie blieben im Eingang stehen.
„Entferne deine Schuhe und deine Kleidung, dann geh bis zu dem Baum und lege dich mit dem Bauch nach untern auf den Boden. Die Arme musst du ausgestreckt halten, die Stirn auf dem Boden. Du darfst nicht aufstehen, es sein denn, es wurde dir gestattet. Hast du verstanden?“
„Ja. Ich habe verstanden.“
„Gut. Bis später. Ich warte draußen auf dich. Viel Glück, Tochter.“
Apanos ging davon und die Tür schloss sich hinter Michelle. Sie zog ihre Kleidung und Schuhe aus und ging über den weichen Moosteppich bis zu dem Baum. Dort legte sie sich nieder, wie der König ihr gesagt hatte. Eine Weile passierte nichts, dann hörte sie die tiefe Stimme.
„Wir haben vernommen, dass du um ein Gespräch gebeten hast. Normalerweise sprechen wir nicht auf den Wunsch eines niederen Wesens. Wir sprechen, wenn wir es für richtig halten.“
„Verzeiht, Ihr Allwissenden Mächte. Ich … ich musste es versuchen.“
„Sooo? Warum?“
„Um euch einen Handel vorzuschlagen“, antwortete Michelle.
Die Stimme lachte, doch es klang eher höhnisch, als erfreut.
„Einen Handel? Du hast Selbstvertrauen, Erdenmensch.“
„Ich habe keine andere Wahl. Es ist entweder das, oder sterben an gebrochenem Herzen. Ich kann nicht mehr essen und das gefährdet das Leben meines Sohnes. Wenn er stirbt, wird es keinen Hüter mehr geben und die Dunklen Mächte bekommen das Wasser, richtig?“
„Das ist richtig. Aber was willst du nun gegen dein gebrochenes Herz unternehmen?“
„Ich biete mein Leben gegen das Leben des Mannes, den ich liebe. Natürlich unter der Bedingung, dass ich erst mein Kind entbinden darf, ehe … ehe Ihr mich tötet.“
Eine Weile herrschte Schweigen und Michelles Herz sank.
„Du bist wirklich bereit, dein Leben für Naios Leben zu geben? Bist du dir sicher?“
„Ja!“
„Auch, wenn wir dir erzählen, dass du exakt so sterben müsstest, wie er sterben würde? Es ist kein schneller Tod. Es wird Stunden dauern und es wird schmerzhaft sein. Sehr schmerzhaft.“
Michelle schluckte schwer. Sie war keine Heldin. Sie hasste Schmerzen. Aber wenn sie am Leben blieb und Naios sterben sollte, dass würde ihr Schmerz noch viel länger andauern lassen. Und ihr Sohn würde vielleicht auch sterben, wie sie es gesagt hatte.“
„Ich bin bereit“, antwortete sie schließlich fest.
„So sehr liebst du ihn?“ Die Stimme klang plötzlich sanft.
Tränen liefen Michelle über die Wangen und tropften auf das Moos.
„Ja“, flüsterte sie erstickt. „Mehr als irgendwas auf der Welt. Einzig mein Kind liebe ich genauso sehr.“
„Wir werden die Sache überdenken. Erhebe dich und verlasse unseren Tempel. Doch halte deinen Blick auf den Boden gesenkt.“
„Ich danke Euch, dass Ihr bereit seid, mein Anliegen zu überdenken“, sagte Michelle und erhob sich.
***
Naios fühlte sich taub. Er schien unfähig, irgendetwas anderes zu empfinden als diese eintönige Taubheit. Körperlich und seelisch war er bereits so gut wie tot. Er lag auf der Liege in seiner Zelle, wo man ihn gefangen hielt und glitt von Wachen zum Schlafen hin und her, ohne dass es für ihn irgendeinen Unterschied zu machen schien. Er begann, zu vergessen. Wer er war. Wo er war. Was um ihn herum geschah. Alles egal. Nichts zählte. Er lebte ohnehin nicht mehr. Er existierte, doch in einem entfernten Winkel seines Bewusstseins wusste er, das dies nicht mehr lange so sein würde. Er war hier zum Sterben.
Er registrierte vage, dass jemand in den Raum trat. Langsam wandte er den Kopf zur Seite und schaute teilnahmslos auf das Mädchen, das vor ihm stand.
„Wir sind gekommen, um dir zu sagen, dass du heute sterben wirst“, hörte er die tiefe Stimme der Allwissenden Mächte.
Als wenn das etwas Neues wäre
, dachte er ungerührt.
Ich warte doch schon so lange darauf, dass dies hier vorbei ist.
„Deine Auserwählte hat um einen Handel ersucht“, sagte die Stimme und Naios wurde hellhörig.
Seine Auserwählte. Erinnerungen drangen ungebeten in sein Bewusstsein. Ein Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge. So schön. Sie war so unsagbar schön und er würde sie nie wieder sehen. Die
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