Naked - Hemmungslose Spiele (German Edition)
geben.
Ich wusste bis zur zweiten Klasse nicht, dass ich schwarz bin. Oh, natürlich habe ich schon immer gewusst, dass meine Haut dunkler war als die meiner Eltern und Brüder. Auch sonst sah ich ihnen nicht ähnlich. Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich adoptiert worden war, und wir feierten jedes Jahr nicht nur meinen Geburtstag, sondern auch den Tag, an dem ich Teil der Familie geworden war. Ich hatte nie das Gefühl, nicht aus ganzem Herzen geliebt zu werden. Ich wurde sogar hemmungslos verwöhnt – von zwei viel älteren Brüdern und von Eltern, die, wie ich später erfuhr, verzweifelt versucht hatten, mich dafür zu entschädigen, dass ihre Ehe vor die Hunde gegangen war.
Ich hatte immer geglaubt, ich sei etwas Besonderes. Aber bis zur zweiten Klasse hatte ich nie verstanden, dass ich auch … anders war.
Desiree Johnson zog damals in unsere Gegend, und so kam sie in die Grundschule in Ardmore. Vorher hatte sie in der City von Philadelphia gewohnt. Sie hatte das Haar zu Hunderten winziger Zöpfchen geflochten, die eng an ihrem Kopf anlagen und an den Enden mit Plastikspangen verschlossen waren. Sie trug T-Shirts mit Goldschriftzügen und weiche Velourshosen. Ihre Sneaker waren strahlend weiß und irgendwie zu groß für ihre Füße. Sie war anders, und wir alle starrten sie unverhohlen an, als sie das erste Mal in unser Klassenzimmer kam.
Unsere Lehrerin, Miss Dippold, hatte uns an diesem Morgen erzählt, wir bekämen eine neue Mitschülerin. Sie hatte uns ausdrücklichdarauf hingewiesen, wie wichtig es sei, nett zu neuen Mitschülern zu sein. Besonders zu denen, die „nicht so“ waren wie wir. Sie las uns eine Geschichte über Zeke vor – ein Pony mit Streifen, das gar kein Pony, sondern ein Zebra war. Sogar in der zweiten Klasse hatte ich lange vor dem Ende kommen sehen, wie die Geschichte ausgehen würde.
Was ich nicht hatte kommen sehen, war Miss Dippolds Anweisung, mein Pult so zu drehen, dass Desiree neben mir sitzen konnte. Ich gehorchte natürlich. Ich war sogar hocherfreut, weil Miss Dippold mich als Freundin für das neue Mädchen auserwählt hatte. Hatte sie das vielleicht gemacht, weil ich in dieser Woche die Klassenbeste im Buchstabieren war und deshalb als Erste auf den Pausenhof durfte? Oder hatte Miss Dippold etwa bemerkt, dass ich Billy Miller meinen besten Bleistift geliehen hatte, weil seiner wieder mal zu Hause lag? Mein Pult kratzte über den Fußboden, als ich es zur Seite schob, und kleine Reste vom Bohnerwachs rollten sich unter den Tischbeinen auf. Hausmeister Randall stellte ein zweites Pult und einen Stuhl neben meins.
Wie sich herausstellte, war nichts von dem, was ich gedacht hatte, der Grund dafür, dass die neue Mitschülerin zu mir gesetzt wurde. Sondern etwas, worauf ich im Leben nicht gekommen wäre.
„Hier“, sagte Miss Dippold, nachdem Desiree sich hinter das neue Pult gesetzt hatte. „Das ist Olivia. Ich bin sicher, ihr werdet bald die besten Freundinnen.“
Desirees Spangen klackerten gegeneinander, als sie den Kopf drehte und mich musterte. Den Faltenrock, die Kniestrümpfe und Schnallenschuhe. Mein Haar, streng zurückgekämmt und mit einem Haarband gebändigt. Die Strickjacke.
Für eine Zweitklässlerin war Desiree schon ziemlich abgebrüht. „Sie machen wohl Witze!“
Miss Dippold blinzelte hinter ihrer großen Schildpattbrille. „Desiree? Gibt es ein Problem?“
Sie seufzte schwer. „Nein, Miss Dippold. Ist alles in Ordnung.“
Später, kurz vor der Mittagspause, beugte ich mich zu ihr hinüber, um auf die Zeichnungen zu schauen, die sie auf ihrem Block machte. Es waren zumeist Kreise und Wirbel, die sie mit dem Bleistift schraffierte. Ich zeigte ihr meine eigenen Kritzeleien, die nicht halb so hübsch waren.
„Ich zeichne auch gerne“, sagte ich.
Desiree schaute flüchtig auf meine Werke und schnaubte. „Mhm.“
Ich ließ mich nicht entmutigen. „Vielleicht hat Miss Dippold deshalb gedacht, wir werden bestimmt Freundinnen“, erklärte ich geduldig. „Weil wir beide so gerne zeichnen.“
Desirees Augenbrauen schossen hoch, bis sie fast den Haaransatz berührten. Sie schaute sich in der Klasse um. Die anderen wurden langsam unruhig, weil sie sich auf die Mittagspause und die Sloppy Joes in der Kantine freuten. Dann blickte sie wieder mich an. Und dann nahm sie meine Hand und legte sie neben ihre. Auf der hellgrauen Tischplatte wirkten unsere Finger wie dunkle Schatten.
„Miss Dippold wusste nicht, dass ich gerne
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