Narkosemord
Krankenpfleger bedachte ihn mit einem angewiderten Blick, stand auf und ging.
Jeffrey schüttelte den Kopf über die Humorlosigkeit des Mannes. Angesichts seiner Reaktion hätte man denken können, er habe ihm Gift angeboten. Langsamer als sonst zog Jeffrey seine OP-Kleidung aus. Er massierte sich kurz die Schläfen, stemmte sich dann hoch und ging in die Dusche. Nachdem er sich eingeseift und abgespült hatte, blieb er noch fünf Minuten unter dem rauschenden Wasserstrahl stehen, bevor er wieder hinaustrat und sich rasch abfrottierte. Er bürstete sich das wellige, sandbraune Haar, schlüpfte in saubere OP-Kleidung, legte die Maske an und setzte die Haube auf. Jetzt fühlte er sich erheblich wohler. Von gelegentlichem Gurgeln abgesehen, schien sogar sein Dickdarm wieder in Ordnung zu sein - zumindest vorläufig.
Jeffrey ging durch den Aufenthaltsraum und den OP-Korridor zurück und stieß die Tür auf, die auf die Entbindungsstation führte. Die Einrichtung hier war ein willkommenes Gegengewicht zu den kahlen, zweckmäßigen Kachelwänden im OP-Trakt. Die einzelnen Kreißsäle waren vielleicht ebenso steril, aber die Station selbst und die Labors waren in Pastellfarben gestrichen, und an den Wänden hingen gerahmte Impressionistendrucke. An den Fenstern gab es sogar Vorhänge. Man fühlte sich fast wie in einem Hotel und nicht wie in einem Großstadtkrankenhaus.
Jeffrey blieb vor der Theke der Stationszentrale stehen und erkundigte sich nach seiner Patientin.
»Patty Owen ist in Fünfzehn«, sagte eine große, gutaussehende Schwarze. Ihr Name war Monica Carver. Sie war die leitende Schwester der Abendschicht.
Jeffrey lehnte sich an die Theke, dankbar für die Gelegenheit, sich kurz ausruhen zu können. »Wie geht’s ihr?« fragte er.
»Prima«, antwortete die Schwester. »Aber es wird noch eine Weile dauern. Die Wehen sind noch nicht stark oder häufig, der Muttermund hat sich erst um vier Zentimeter geweitet.«
Jeffrey nickte. Es wäre ihm lieber gewesen, die Sache wäre schon in einem fortgeschrittenen Stadium. Üblicherweise wartete man, bis die Weitung sechs Zentimeter betrug, ehe man die Epiduralanästhesie vornahm. Monica reichte ihm das Krankenblatt. Er überflog es rasch. Viel gab es nicht. Die Frau war offenbar gesund. Das war wenigstens etwas.
»Ich werde mich mal mit ihr unterhalten«, sagte er. »Dann gehe ich wieder in die OP-Abteilung. Wenn sich etwas verändert, rufen Sie mich aus.«
»Ganz bestimmt«, erwiderte Monica fröhlich.
Jeffrey nahm Kurs auf Zimmer fünfzehn. Auf halber Strecke bekam er einen neuer Darmkrampf. Er mußte stehen bleiben und sich an die Wand lehnen, bis er vorbei war. Wie lästig, dachte er. Als ihm wieder wohler war, ging er weiter, und dann klopfte er an die Tür von Zimmer fünfzehn. Eine angenehme Stimme forderte ihn auf, einzutreten.
»Ich bin Dr. Jeffrey Rhodes.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Ihr Anästhesist.«
Patty Owen griff nach der ausgestreckten Hand. Ihre Handfläche war feucht, und ihre Finger fühlten sich kalt an. Sie sah sehr viel jünger aus als vierundzwanzig. Sie war blond, und ihre großen Augen waren wie die eines verwundbaren Kindes. Jeffrey erkannte, daß die Frau Angst hatte.
»Bin ich froh, Sie zu sehen!« begrüßte ihn Patty; sie wollte seine Hand nicht gleich wieder loslassen. »Ich möchte Ihnen sofort sagen, daß ich ein Feigling bin. Ich bin nicht gut, was Schmerzen angeht.«
»Ich bin sicher, da können wir Ihnen helfen«, meinte Jeffrey beruhigend.
»Ich möchte eine Epiduralanästhesie«, sagte Patty. »Mein Arzt sagt, ich kann eine bekommen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Jeffrey. »Und Sie sollen auch eine erhalten. Alles wird gutgehen. Wir haben massenhaft Entbindungen hier im Boston Memorial. Wir werden gut für Sie sorgen, und wenn Sie alles hinter sich haben, werden Sie sich fragen, weshalb Sie eigentlich so viel Angst hatten.«
»Wirklich?«
»Wenn wir nicht so viele zufriedene Patientinnen hätten, glauben Sie, die Frauen würden dann ein zweites, drittes oder sogar viertes Mal wiederkommen?«
Patty lächelte matt.
Jeffrey blieb noch eine Viertelstunde und befragte sie nach ihrer Gesundheit und möglichen Allergien. Er äußerte sein Mitgefühl, als sie ihm erzählte, daß ihr Mann auf Geschäftsreise sei. Es überraschte ihn, wie gut sie sich mit der Epiduralanästhesie auskannte. Sie vertraute ihm an, daß sie nicht nur viel darüber gelesen hatte, sondern daß auch ihre Schwester sie bei ihren beiden
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