Narr
seiner Kindheit gehasst hatte. Er war hier in die Schule gegangen und hatte keine guten Erinnerungen zurückbehalten. Seine Kollegen bezeichneten ihn immer als die »wandelnde österreichische Monarchie«. Ruzicka hatte eine tschechische Mutter, von der er kochen gelernt hatte, einen Wiener Vater, der sich nach der Scheidung nur noch selten gemeldet hatte und nun in einem Altersheim vor sich hin vegetierte, eine italienische Großmutter, die ihm jede Menge südländischer Flüche beigebracht hatte und bereits lange tot war, und einen ungarischen Erbonkel, von dem er wohl nie etwas erben würde.
Sein Großvater war ein Vagabund gewesen, der in seinem Leben niemals einen ordentlichen Wohnsitz gehabt hatte. Je älter Ruzicka wurde, umso öfter überraschte er sich dabei, seinen Großvater zu beneiden.
Der Kommissar wurde angesichts des Reporters noch verdrießlicher. »Das Vergnügen ist ganz auf Ihrer Seite«, antwortete er Wagner trocken, blieb vor Georg Sina stehen und stieß seinen Finger in die Brust des Wissenschaftlers. »Professor, Sie treiben sich noch immer mit diesem Schlagzeilenjongleur herum? Haben Sie keinen besseren Umgang gefunden?« Sina grinste und wollte etwas erwidern, aber Ruzicka hatte sich bereits wieder Paul zugewandt. »Ich frage mich, warum die Presse immer öfter früher da ist als ich, Wagner. Finden Sie das nicht seltsam?«
»Eventuell sollten Sie zeitiger aufstehen, Kommissar«, versuchte es der Journalist, aber ein vernichtender Blick Ruzickas ließ ihn verstummen.
»Verspielen Sie nicht den Bonus, den Sie bei mir haben, Wagner, nur weil Sie letztes Jahr meinem alten Freund Berner geholfen haben. Vielleicht entfällt mir diese Erinnerung, weil ich Alzheimer habe und keiner weiß es …«
Sina und Wagner hatten ein Jahr zuvor in einer halsbrecherischen Aktion in Tschechien Kommissar Berner vor dem sicheren Tod gerettet, unterstützt von einer israelischen Geheimagentin, die alle drei in einem Hubschrauber heil nach Wien zurückgebracht hatte.
Ruzicka konnte offenbar die Gedanken der beiden Freunde lesen. »Wie geht es eigentlich Major Goldmann? Ich habe gehört, sie ist noch immer in Wien.«
Wagner und Sina nickten. »Sie ist heute auf einem Empfang in der französischen Botschaft anlässlich des Finanzministertreffens in Wien«, meinte der Wissenschaftler, »sozusagen in offizieller Mission.«
Der Kommissar schien für einen kurzen Moment zu bedauern, dass Valerie Goldmann nicht hier war. »Wer von Ihnen beiden möchte mich jetzt kurz auf den neuesten Stand bringen?«
In knappen Worten schilderte Georg Sina sein Treffen mit Professor Kirschner. Ruzicka hörte wortlos zu und nickte ab und an, dann betrat er den Garten und sagte, ohne sich umzudrehen: »Sie beide bleiben erst einmal hier, bis ich mir einen Überblick verschafft habe.« Es war eine Feststellung, die keinen Widerspruch zuließ. Der Kommissar stapfte in den hell erleuchteten Wald der Obstbäume, stieg über die Kabel der Scheinwerfer der Spurensicherung und verschwand hinter einem Brombeerstrauch.
»Komm, lass uns ein wenig spazieren gehen«, meinte Wagner und begann die Hauptstraße abwärtszuschlendern. »Kommissar Ruzicka wird uns schon finden, wenn er uns braucht.«
Sina wollte erst protestieren, nickte dann jedoch ergeben und folgte dem Reporter in Richtung der verklingenden Musik und den wenigen Besuchern, die sich von den zahlreichen Einsatzfahrzeugen nicht beeindrucken ließen und weitertranken.
»Wer sollte einen alten Mann wie Professor Kirschner umbringen und ihm die Zunge herausschneiden?«, fragte Paul und trieb einen runden Kieselstein mit der Fußspitze vor sich her. »Das ist auf den ersten Blick völlig absurd.«
Georg nickte.
»Und was hältst du von dem gezeichneten Kreuz auf dem Flaschenetikett? Sagt dir das irgendetwas?«, setzte Wagner nach.
»Ich habe genauso viel Ahnung wie du, nämlich gar keine.« Sina schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über sein Haar. »Wenn das ein Hinweis war, dann einer, mit dem ich nichts anfangen kann.«
Einige Minuten später kamen sie am Rathaus vorüber, wo die Musikgruppe ihre Instrumente zusammenpackte und die meisten Tische nun mit leeren Gläsern übersät waren. Nach und nach gingen die Lichter vor den Weinkellern aus, ein paar wenige Autos standen noch in den Einfahrten und würden wohl bis morgen hier stehen bleiben. Angesichts des Großaufgebots von Polizei wollte niemand angeheitert nach Hause fahren und dabei erwischt werden.
Die Luft
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