Narr
unter Berlin.
»Es sieht aus wie eine riesige Rattenfalle und eine äußerst erfolgreiche noch dazu«, murmelte Marzin, der sich nie mit den flinken Nagern hatte anfreunden können. Aber dieser Anblick … Marzin ertappte sich dabei, die toten Tiere zu bedauern. Instinktiv hielt er sich die Hand vor Mund und Nase, als ob er damit den Gestank abwehren könnte.
»Aber wie sind …« Wolle sprach den Satz nicht fertig, als aus einem kleinen Loch nahe des Bodens vorsichtig eine Ratte ihren Kopf vorstreckte, sich umsah, ihren Kopf schräg legte und ihre toten Artgenossen ansah. Dann lief sie wie magnetisch angezogen von den zahllosen Tierkadavern rasch trippelnd über den Steinboden in Richtung der Plattform. Als sie die ersten Gerippe erreicht hatte, blieb sie zögernd stehen, schnüffelte unsicher und schaute sich erneut um. Entweder bemerkte sie Wolle und Marzin nicht, oder die beiden Menschen schienen sie nicht zu stören. Wollner war versucht, in die Hände zu klatschen, um die Ratte zu verscheuchen und damit zu retten, aber fasziniert verharrte er regungslos und schaute zu, was nun geschah.
Die Ratte begann, weiter schnüffelnd, über ihre toten Artgenossen zu klettern, lief immer unruhiger hin und her, hielt jedoch Abstand zu der metallenen, schrägen Fläche, die in der obersten Stufe der Plattform mit der Kiste endete. Sie war nervös, schnupperte immer wieder an einem der Kadaver und lief dabei auf und ab. Marzin dachte schon, sie werde wieder in der Röhre verschwinden, als sich die Ratte plötzlich nach rechts wandte und scheinbar zu der Kiste an der Spitze der kleinen Pyramide hinaufblickte. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte neugierig, auf die nächste Stufe, die aus einer Art von glattem Metall bestand, hinaufzuklettern. Man vernahm das kratzende Geräusch ihrer Krallen, das sich in der Stille des Kellers gespenstisch laut anhörte. Nach einigen Versuchen gelang es ihr endlich und sie erklomm vorsichtig die Schräge.
Erst geschah gar nichts. Doch dann, als ob ein unsichtbarer tödlicher Mechanismus ausgelöst worden wäre, zuckte die Ratte zusammen, erstarrte in der Bewegung und ihr Fell sträubte sich. Sie stieß einen schrillen Laut aus, der Marzin die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Es war ein fast menschlicher Schrei des Entsetzens, hoch und durchdringend. Das Tier versuchte zu entkommen, es machte einen hilflosen Sprung in die Luft und kam doch wieder auf der schrägen Platte auf. Dann durchlief ein Zittern den Körper der Ratte, sie wand sich in Krämpfen und glitt schließlich langsam von der schrägen Fläche, rutschte regungslos über die Kante und blieb unbeweglich auf den Körpern ihrer Artgenossen liegen. Von der Plattform her mischte sich ein neuer Geruch unter den Gestank der Verwesung – der von verbranntem Fleisch.
Peter Marzin konnte seinen Blick nicht von der Plattform und den Bergen toter Ratten losreißen. Neben ihm atmete Wolle laut aus und bemerkte erst dann, dass er vor Entsetzen die Luft angehalten hatte. Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Es war wieder völlig still in dem großen Kellerraum, nur von Ferne meinte Marzin das Gurgeln eines Kanals zu hören.
Endlich schwenkte der Lichtkegel von Wollners Stirnlampe hinauf zu der Kiste, die wie auf einem Altar an der Spitze der Plattform stand. Sie hatte die Größe eines alten Reisekoffers, war offenbar aus Holz, mit breiten Eisenbändern verstärkt und mit einer dicken Staubschicht überzogen.
»Was immer auch da drin ist, es muss verdammt wichtig sein«, flüsterte Marzin und räusperte sich.
»Und es wurde nicht erst gestern hier deponiert«, ergänzte Wolle leise, stellte seinen Rucksack ab und zog eine starke Taschenlampe heraus. »Wir sollten eine vorsichtige Erkundung starten, sonst geht es uns wie den Ratten.«
»Fest steht, dass hier keinerlei Fußabdrücke zu sehen sind«, stellte Marzin fest, der in die Hocke gegangen war und den Lichtkegel seiner Stirnlampe über die Staubschicht am Boden gleiten ließ. »Die Spuren der Ratten kommen alle aus Richtung der Röhre, aber menschliche Besucher scheint es keine gegeben zu haben.«
Während Wolle vorsichtig die Plattform umrundete und die andere Seite des Kellerraumes erkundete, keimte in Marzin ein Verdacht auf und er begann in seinem Rucksack nach einem kleinen Schraubenzieher mit durchsichtigem Griff zu suchen, den er immer auf die Exkursionen in den Berliner Untergrund mitnahm. Es war ein Phasenprüfer, mit dem er schnell
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