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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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war noch immer warm. Paul dachte an Valerie, die wahrscheinlich schon auf dem Heimweg vom Palais Clam-Gallas in ihre kleine Wohnung in der Alserstraße war. »Worauf war Kirschner eigentlich spezialisiert?«, fragte der Reporter den Wissenschaftler und beförderte mit dem Fuß den Kiesel von der Straße in die Dunkelheit. »Weißt du, woran er arbeitete, schrieb er noch an etwas, forschte er oder ergab er sich der Pension und wartete trinkend auf das Ende?«
    »Zu meiner Studienzeit war Kirschner ein Fachmann für die österreichische Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts«, antwortete Sina und unterdrückte ein Gähnen. »Und er war brillant auf seinem Gebiet. Aber dann zog er sich immer mehr zurück und ich verlor ihn aus den Augen. Er begann zu reisen, nach England, Russland, Deutschland, Frankreich, publizierte aber nichts mehr. Soviel ich weiß, bis heute.«
    Vor ihnen öffnete sich ein kleiner runder Platz, der von einer einsamen Straßenlaterne beleuchtet wurde. Ein kleines, verwittertes Buswartehäuschen stand auf einer Seite, niedrige Winzerhäuser duckten sich auf der anderen. Neben der Haltestelle, unter zwei alten Kastanienbäumen, blitzte es hell aus der Dunkelheit. Sina und Wagner traten neugierig näher und standen plötzlich vor einem hohen, gemauerten Kreuz, das von zwei Heiligen umrahmt wurde. Im Schein der Straßenlaterne, der durch die Zweige der Bäume fiel, tanzten Schatten um die Buchstaben und kleine Zeichen auf den zwei Querbalken des gekalkten Kreuzes.
    »Was immer auch Professor Kirschner auf das Weinetikett gezeichnet hat, es sieht ganz so aus, als hätten wir es gefunden«, flüsterte Wagner und seine Finger glitten über die Vertiefungen und die erhabenen Lettern. »Nur einzelne Buchstaben, nicht ein einziges ganzes, lesbares Wort. Seltsam, nicht?«

    »Ein Lothringerkreuz. Nein! Ein Pestkreuz. Und es steht in Sichtweite des Tatorts«, ergänzte Sina, während er auf die beiden Pestheiligen, Sebastian und Rochus, blickte, die das geheimnisvolle Kreuz zu bewachen schienen. Der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens erleuchtete die Szenerie kurz gespenstisch, bevor alles wieder im Dunkel versank. In diesem Moment begann das Handy des Reporters zu läuten.
    »Unbekannter Teilnehmer«, murmelte Wagner nach einem Blick auf das Display und nahm das Gespräch an. Der Anrufer hielt sich nicht mit langen Vorreden auf.
    »Familienministerin Panosch ist soeben tot aufgefunden worden. Die Untersuchungen haben begonnen, die Spurensicherung ist vor Ort. Mehr weiß man noch nicht.« Der Anrufer verstummte.
    »Mord oder Unfall?« Der Reporter ging zur Bushaltestelle und setzte sich auf die schmale Bank.
    »Das kann noch niemand sagen, äußerliche Verletzungen gibt es keine. Ein Spaziergänger hat sie im Stiegenhaus ihres eigenen Hauses gefunden.«
    »Wer hat den Fall übernommen?« Wagner winkte Sina zu sich und bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen.
    »Die Staatspolizei und die Kriminalabteilung arbeiten noch zusammen. Die Betonung liegt auf ›noch‹«, stellte der unbekannte Informant lakonisch fest und man konnte sein Lächeln fast hören. Dann legte er auf.
    Unter den Linden, Berlin-Mitte/Deutschland
    H underte, vielleicht Tausende Ratten in den verschiedensten Stadien der Verwesung lagen in der Mitte des Raumes, rund um eine seltsam aussehende, zwei Meter hohe Plattform von etwa fünf mal fünf Metern Grundfläche. Es waren Generationen von Ratten, die da lagen, teilweise nur mehr die Gerippe, dann wieder fast mumifizierte Exemplare, weiter oben schließlich verwesende Kadaver, die einen bestialischen Gestank verbreiteten. Nur ganz wenige hatten es auf die mittlere Schräge der Plattform geschafft und waren dort verendet, ihre Körper schwarz und wie verkohlt. Bis zu der staubbedeckten, eisenbeschlagenen Holzkiste, die in der Mitte des Podests auf einer weiteren Stufe stand, war keines der Tiere vorgedrungen. Wolle und Marzin schwenkten ihre Stirnlampen und waren sprachlos, während eine Welle der Übelkeit sie erfasste.
    »Was um Gottes willen ist das?«, flüsterte Wolle und konnte seine Augen nicht von den toten Ratten abwenden. In den Jahrzehnten, in denen er die Berliner Unterwelt erkundete, hatte er sich an die intelligenten Nager gewöhnt. Sie begegneten ihm überall und Studien behaupteten, dass für jeden Großstadtbewohner zwei Ratten in den Kanälen unter der Erde lebten. Wolle hatte nie Grund gehabt, daran zu zweifeln. Für ihn waren sie die wahren Herren der dunklen Welt

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