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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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und sicher stromführende von abgeklemmten Drähten unterscheiden konnte. In der Vergangenheit waren sie immer wieder auf mehr intakte Leitungen gestoßen, als ihnen lieb war. Und die Kombination von Strom und Feuchtigkeit war letal.
    Stets in einem sicheren Abstand von der Plattform bleibend, hatte Wolle rasch den Raum abgesucht und außer glatten Wänden nichts gefunden. »Es gibt nur einen Eingang und durch den sind wir hereingekommen«, berichtete er Marzin und wies dann nach oben. »Die Öffnung auf halber Wandhöhe scheint ein Lufttunnel oder ein Versorgungsschacht zu sein. Auf jeden Fall ist sie zu klein für einen Menschen und außerdem endet sie schräg in der Wand. Das kleine Loch, durch das die Ratten gekommen sind, muss wohl die einzig intakte Verbindung nach draußen sein. Dann ist da noch ein etwas größeres Loch, das aber mit einer Metallplatte verschlossen ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Bleiben die Plattform und die Kiste und dieser bestialische Gestank …«
    Instinktiv schaute Marzin über seine Schulter und versicherte sich, dass die Tür noch immer offen stand. Dann näherte er sich vorsichtig den Bergen toter Ratten, die wie ein Ring aus verwesendem Fleisch die Plattform umgaben. Ihm war schlecht und bei dem Gedanken, was nun kommen würde, drehte es ihm den Magen um. Der Gestank war unbeschreiblich, die Körper der toten Tiere waren bis zu einem halben Meter und höher aufgeschichtet. Marzin zögerte und plötzlich stand Wolle neben ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Soll ich?« Der Jüngere schüttelte den Kopf.
    »Bleib du da, Fritz, es genügt, wenn erst einmal einer geht …« Marzins Stimme verebbte. Er holte tief Luft und bereute es gleich wieder. »Und wenn ich ohnmächtig werde, dann brauche ich jemanden, der mich aus dieser Pestgrube wieder herauszieht.«
    Bei dem ersten tastenden Schritt wollte Marzin die Körper der Ratten mit dem Fuß beiseiteschieben, aber die Masse war viel zu kompakt, durch Jahrzehnte und immer wieder hinzugekommene neue Schichten verdichtet zu einem Konglomerat aus Knochen, Fleisch und Fellresten. Marzin schluckte, machte den ersten Schritt und versank bis zum Knie in einer knackenden und schmatzenden Masse von Tierleibern.
    Kleinwetzdorf, Weinviertel/Österreich
    D ie Geleise der Franz-Josefs-Bahn zerteilten den weitläufigen Besitz des Schlosses wie ein tiefer chirurgischer Schnitt. Die Trasse war schnurgerade und ohne Rücksicht auf besitzrechtliche und landschaftliche Gegebenheiten umgesetzt worden. Das über Jahrhunderte gewachsene Gut war quasi über Nacht zerstückelt und auseinandergerissen worden. Der wuchtige Bahndamm war von den Ingenieuren im 19. Jahrhundert für ursprünglich zwei Geleise angelegt worden, um in zwei Stundentakten Wien mit Prag zu verbinden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde jedoch die zweite Spur abgebaut und es verblieb nur noch ein Schienenstrang, da die Stadt an der Moldau von der Politik in unerreichbare Ferne gerückt worden war. Auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich für die Franz-Josefs-Bahn nichts geändert, da nun alle wichtigen Personenund Güterzüge in die Tschechische Republik über die mehrspurige Trasse via Hohenau geführt wurden.
    Die Wunde, die dem ehemaligen Gutsbetrieb von der Bahn geschlagen worden war, konnte nie ganz verheilen. Die Natur hatte sich bemüht, das Umfeld des Bahndamms wieder in Besitz zu nehmen und mit den Kronen großer Bäume gnädig die Trasse zu verdecken, es war ihr aber nur bedingt gelungen. Die Narbe war unverändert sichtbar. Die weitläufigen Parkanlagen des Anwesens waren nun großflächig verwildert. Von dem ursprünglichen Konzept des englischen Gartens waren nur noch schemenhafte Reste im Laubwald zu erahnen und einige liebevoll restaurierte Inseln zu besichtigen.
    Eine schmale, asphaltierte Straße schlängelte sich erst entlang des Schlosses und dann durch den gemauerten Rundbogen eines Viaduktes unter der Bahn hindurch, um sich schließlich auf einen angrenzenden Hügel zu schlängeln und sich im Wald zu verlieren. Hinter dem Brückendurchlass lagen in einer dunkelroten Ziegelwand entlang der Fahrbahn die verwitterten Holztore von Weinkellern und Lagern. Durch den schmalen Spalt in einem dieser Tore fiel gelbliches Licht, das Klirren von Glas drang ganz leise nach draußen in die Dunkelheit.
    Ein Weinbauer im blauen Arbeitsmantel schichtete volle Bouteillen in die Regale und brachte große Körbe mit leeren Flaschen vor die Abfüllanlage, wo

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