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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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fähig, sich zu bewegen   – seine Ellenbogen waren verrenkt, die Schultergelenke ausgekugelt, die Schienbeine gebrochen, die Finger zerschlagen, dazu der reißende, quälende Schmerz der Brandwunden an den Seiten und unter den Füßen. Er lag auf dem Rücken, stöhnte, wimmerte, blinzelte, die Lider blutverklebt, und delirierte.
    Geradewegs aus der Wand, direkt aus der mit Schimmelflechten bedeckten Mauer, genau aus der Spalte zwischen den Ziegeln, schien es, kam ein Vogel hervor. Und verwandelte sich sogleich in einen schwarzhaarigen, schwarz gekleideten Menschen. Das heißt, er nahm menschliche Gestalt an. Denn Zacharias Voigt wusste sehr wohl, dass dies kein Mensch war.
    »O mein Herr . . .«, ächzte er und krümmte sich auf dem Stroh. »O Fürst der Finsternis . . . Geliebter Meister . . . Du bist gekommen! Du lässt deinen treuen Diener in der Not nicht im Stich . . .«
    »Ich muss dich enttäuschen«, sagte der Schwarzhaarige und beugte sich über ihn. »Ich bin nicht der Teufel. Auch nicht sein Abgesandter. Der Teufel kümmert sich wenig um das Schicksal des Einzelnen.«
    Zacharias Voigt öffnete den Mund wie zu einem Schrei, aber er konnte nur krächzen.
    Der Schwarzhaarige packte ihn an den Schläfen.
    »Der Ort, wo die Traktate und Grimuarien versteckt sind!«, befahl er. »Es tut mir leid, aber ich muss es aus dir herausbekommen. Du wirst von den Büchern sowieso keinen Gebrauch mehr machen. Aber mir werden sie sehr viel nützen. Bei der Gelegenheit erspare ich dir weitere Torturen und das Feuer des Scheiterhaufens. Danke mir nicht.«
    »Wenn du nicht der Teufel bist . . .«, die Augen des Magiers, der nicht mehr Herr seiner Sinne war, weiteten sich vor Schreck, »dann kommst du . . . von jenem anderen? O Gott! . . .«
    »Ich muss dich schon wieder enttäuschen«, lächelte der Mauerläufer. »Der kümmert sich um das Schicksal des Einzelnen noch viel weniger.«

Fünfzehntes Kapitel
    in dem sich erweist, dass Wendungen wie die von der »Kunst, die sich auszahlt« und vom »künstlerischen Schachern« keineswegs eine contradictio in adiecto sein müssen und dass auf dem Gebiet der Kultur sogar epochemachende Erfindungen nicht so leicht einen Sponsor finden.
    W ie jede größere Stadt in Schlesien drohte auch Schweidnitz jedem mit einer Geldbuße, der es wagte, Abfall oder Unrat auf die Straße zu werfen. Es hatte aber nicht den Anschein, als würde jenes Verbot übertrieben streng geahndet, ganz im Gegenteil, man sah, dass sich keiner aus diesem Verbot etwas machte. Ein kurzer, aber kräftiger Regenschauer am Morgen hatte die Straßen der Stadt durchnässt, und die Hufe der Pferde und Rinder verwandelten sie in einen Abgrund aus Kot, Schlamm und Stroh. Aus diesem Abgrund erhoben sich wie verzauberte Inseln in einem Ozean die Abfallhaufen, reich verziert mit den verschiedensten, manchmal durchaus ansehnlichen Stücken von Aas. Durch den etwas festeren Mist watschelten Gänse, auf dem flüssigeren schwammen Enten. Die Menschen bewegten sich mühevoll über die Bürgersteige aus Brettern und Schindeln, von denen sie bei jeder Bewegung abzurutschen drohten. Obwohl die Gesetze des Magistrats ebenfalls bei Strafe verboten, das Vieh frei herumlaufen zu lassen, rannten auf den Straßen in beiden Richtungen quiekende Schweine hin und her. Die Schweine machten den Eindruck, als seien sie übergeschnappt, sie rannten wie weiland ihre Urahnen im biblischen Gadara wie wild hierhin und dorthin, brachten Menschen zu Fall und machten die Pferde scheu.
    Sie ließen die Webergasse, dann die von Hammerschlägendröhnende Böttchergasse hinter sich, dann die Hohe Gasse, hinter der sich schon der Markt befand. Reynevan drängte es, die nahe gelegene, berühmte Apotheke »Zum Goldenen Lindwurm« zu betreten, denn er kannte den Apotheker, Herrn Christoph Eschenloher gut, bei dem er einst die Grundlagen der Alchemie und der weißen Magie studiert hatte. Er gab jedoch seinem Wunsch nicht nach, denn die letzten drei Wochen hatten ihn vieles über die Prinzipien der geheimen Organisation gelehrt. Zudem gemahnte Scharley zur Eile. Er verlangsamte nicht einmal vor den zahlreichen Schankstuben, in denen Schweidnitzer Märzen, ein Bier von Weltruf, ausgeschenkt wurde, seinen Schritt. Sie gingen so rasch wie das Gedränge es zuließ über den Gemüsemarkt unter den Arkaden gegenüber vom Rathaus und wanderten die vom Gedränge der Wagen beengte Krasswitzer Gasse entlang.
    Scharley folgend, betraten sie durch einen niedrigen

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