Narrenturm - Roman
undeutliche Gestalt, die sich unterhalb des Fensters des Stadttrompeters und über dem Fenster jenes Saales bewegte, in dem die Beratung eben noch stattgefunden hatte. Er schaute hinauf und bedeckte wegen des Lichts der Laterne, die ein Diener vor ihm hertrug, die Augen. Zum Teufel!, dachte er und bekreuzigte sich sogleich. Was krabbelt denn da an der Mauer? Ein Uhu, eine Eule, eine Fledermaus? Vielleicht . . .
Johann Hofrichter schüttelte sich, bekreuzigte sich noch einmal, stülpte seine Marderkappe auf, hüllte sich fest in seinen Pelzrock und begab sich eilig in Richtung seines Hauses.
Daher sah er nicht, dass ein riesiger Mauerläufer seine Flügel ausbreitete, vom Gesims herunterflog und lautlos wie ein Geist, wie ein Nachtgespenst über die Dächer der Stadt dahinglitt.
Apeczko Sterz, der Herr auf Ledna, weilte nicht gerne auf Schloss Sterzendorf. Der Grund dafür war ganz einfach: Sterzendorf war der Sitz von Tammo von Sterz, dem Haupt, Senior und Patriarchen des Geschlechtes. Oder wie einige sagten, dem Tyrannen, Despoten und Quäler.
In der Kammer war es stickig. Und dunkel. Tammo von Sterz erlaubte nicht, dass die Fenster geöffnet wurden, aus Furcht vor der Zugluft; auch die Fensterläden mussten ständiggeschlossen bleiben, denn das Licht blendete die Augen des Krüppels.
Apeczko war hungrig. Und staubbedeckt von der Reise. Aber es war weder Zeit für ein Mahl noch für eine Reinigung des Körpers. Der alte Sterz wartete nicht gern. Er bewirtete auch seine Gäste nicht gern. Vor allem nicht Familienmitglieder.
Apeczko schluckte seinen Speichel hinunter, um die Kehle anzufeuchten – natürlich hatte man ihm nichts zu trinken angeboten – und berichtete Tammo von den Ereignissen in Oels. Er tat es nicht gerne, aber was soll’s, es war seine Pflicht. Krüppel oder nicht, gelähmt oder nicht, Tammo war der Älteste des Geschlechtes. Ein Oberhaupt, das keinen Ungehorsam duldete.
Der Alte hörte sich den Bericht im Sessel sitzend an, in der für ihn typischen, unglaublich verrenkten Körperhaltung. Verrückter Tattergreis, dachte Apeczko. Verdammtes, krummes Urgestein!
Die Ursache des Zustandes, in dem sich der Patriarch des Geschlechtes derer von Sterz befand, war nicht allen und auch nicht genau bekannt. In einem Punkt aber herrschte Übereinstimmung: Tammo hatte der Schlag getroffen, weil er wütend geworden war.
Die einen behaupteten, der Alte hätte einen Wutausbruch erlitten, und zwar auf die Nachricht hin, dass sein persönlicher Feind, der verhasste Konrad von Breslau die Bischofsweihe erhalten habe und dadurch zur mächtigsten Persönlichkeit Schlesiens aufgestiegen sei. Andere versicherten, dass der fatale Ausbruch durch seine Schwiegermutter, Anna von Seifersdorf, verursacht worden sei, als sie sein Leibgericht – Buchweizengrütze mit Speckgrieben – hatte anbrennen lassen. Wie es wirklich dazu gekommen war, erriet keiner, die Auswirkungen jedoch waren augenfällig. Sterz konnte nach dem Anfall nur noch die linke Hand und den linken Fuß bewegen, sehr unbeholfen übrigens. Das rechte Augenlid hing völlig herab, unterdem linken, das ihm manchmal zu heben gelang, quollen ständig schleimige Tränen hervor, und aus dem Winkel des zu einer scheußlichen Grimasse verzogenen Mundes tropfte der Speichel. Der Anfall hatte auch den fast völligen Verlust der Sprache zur Folge gehabt, daher rührte der Beiname des Alten – Balbulus. Der Stotterer.
Der Verlust der Sprache zog aber keineswegs das nach sich, worauf die ganze Familie gehofft hatte – den Verlust des Kontaktes zur Umwelt. O nein! Der Herr auf Sterzendorf hielt nach wie vor die Familie in Schach, war der Schrecken aller, und das, was er zu sagen wünschte, sagte er auch. Immer hatte er jemanden bei der Hand, der es verstand, sein Gurgeln, Räuspern, Stammeln und Schreien in menschliche Laute zu übertragen. Dies war in der Regel ein Kind – einer der zahlreichen Enkel und Urenkel des Balbulus.
Heute war die zehnjährige Ofka von Baruth seine Übersetzerin, die, zu Füßen des Alten sitzend, ihre Puppe mit bunten Lumpen bekleidete.
»So also«, sagte Apeczko Sterz und beendete unter Räuspern seinen Bericht, »hat Wolfher gebeten, Euch durch mich als Boten davon zu unterrichten, dass die Sache bald abgetan sein wird. Dass Reinmar Bielau auf dem Weg nach Breslau gefasst und seiner Strafe zugeführt werden wird. Noch aber sind Wolfher die Hände gebunden, denn der Herzog von Oels befindet sich mit seinem
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