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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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der Domina gesehen«, die Rothaarige wies mit den Augen auf die Hinkende mit dem blondenZopf, deren Gesicht vom Weinen geschwollen war. »Was ist mit ihr?«
    »Das übliche, das übliche Leid.« Eine dicke Müllerin, hier und da noch von Mehlspuren überzogen, zuckte die runden Schultern. »Sie ist umsonst zur Domina gegangen, hat umsonst gebeten. Das, was sie wollte, hat die Domina ihr verweigert. Sie soll sich in die Zeit und in ihr Schicksal ergeben.«
    »Ich weiß. Ich habe selbst auch einmal gebeten.«
    »Na und?«
    »Die Zeit«, die Rothaarige entblößte lächelnd die Zähne, »hat gebracht, was sie bringen sollte. Und dem Schicksal habe ich etwas nachgeholfen.«
    Die Hexen brachen in ein Gelächter aus, dass sich Reynevan die Nackenhaare sträubten. Er wusste, dass ihn die
bonae feminae
beobachteten, es machte ihn wütend, dass er wie ein Stock dastand und in den Augen vieler wie ein verschreckter Primitivling wirken musste. Er schluckte, um sich Mut zu machen.
    »Außergewöhnlich viele . . .«, begann er und räusperte sich, »außergewöhnlich viele der hier Anwesenden sind Vertreter der alten Stämme . . .«
    »Außergewöhnlich?«
    Er wandte sich um. Es war nicht verwunderlich, dass er keine Schritte gehört hatte, denn der, der dicht hinter ihm stand, war ein Alp, groß und dunkelhäutig, mit schneeweißen Haaren und spitzen Zähnen. Alpe bewegten sich geräuschlos, man konnte sie nicht hören.
    »Außergewöhnlich, sagst du?«, wiederholte der Alp. »Ja, vielleicht kommt das Gewöhnliche noch, Junge. Das, was du alt nennst, wird vielleicht neu. Oder erneuert. Die Zeit der Veränderungen zieht herauf, vieles verändert sich. Vielleicht verändert sich sogar das, was viele, sogar manche der hier Anwesenden für unveränderlich hielten.«
    »Und weiterhin dafür halten«, sagte ein Wesen, das die provokanten Worte des Alps auf sich bezog und das Reynevan am wenigstens hier erwartet hätte, nämlich ein Priester mit einerTonsur. »Sie halten es weiterhin dafür, weil sie wissen, dass manches nicht wiederkehrt. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Ihr hattet Eure Zeit, Herr Alp, Ihr hattet Eure Epoche, Eure Ära, sogar Euren Äon. Aber was soll man machen,
omnia tempus habent et suis spatiis transeunt universa sub caelo,
alles hat seine Zeit und seine Stunde. Und was vergangen ist, kommt nicht wieder. Trotz aller Veränderungen, die, unter uns gesagt, viele von uns erwarten.«
    »Das Bild der Welt und ihre Ordnung werden sich vollständig verändern«, beharrte der Alp. »Alles reformiert sich. Ich rate euch, den Blick nach Süden, nach Böhmen, zu wenden. Dort ist der Funke entstanden, aus dem die Flamme auflodert, im Feuer reinigt sich die Natur. Böse und kranke Dinge verschwinden daraus. Aus dem Süden, aus Böhmen, kommt die Veränderung, die gewissen Dingen und Angelegenheiten ein Ende bereitet. Besonders das Buch, aus dem ihr so gerne zitiert, wird seinen Rang verlieren und zu einer Sammlung von Sprüchen und Sprichwörtern herabsinken.«
    »Erwartet nicht zu viel von den böhmischen Hussiten«, der Priester schüttelte den Kopf, »in gewissen Dingen sind sie, wenn ich so sagen darf, päpstlicher als der Papst. Mir scheint, dass die böhmische Reform für uns nicht gut ausgeht.«
    »Das Wesen der Reform ist es in der Tat«, sagte mit fester Stimme eine der maskierten Edeldamen, »dass sie Dinge ändert, die unveränderbar und ewig scheinen. Dass sie eine Bresche schlägt in eine anscheinend dauerhafte Struktur, dass sie den scheinbar harten und festen Monolithen zertrümmert. Aber, wenn man etwas aufbrechen, bewegen, zertrümmern kann . . . Dann kann man es auch zu Staub zermahlen. Die böhmischen Hussiten werden wie eine Hand voll Wasser sein, das im Fels gefriert. Und ihn zersprengt.«
    »Dasselbe«, rief einer von hinten, »hat man auch von den Katharern gesagt!«
    »Das waren Steine auf einen Wall!«
    Ein wüstes Durcheinander brach aus. Reynevan zuckte einwenig zusammen, erschrocken über den Tumult, den er ausgelöst hatte. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um und erbebte, als er ein hoch gewachsenes Wesen weiblichen Geschlechts sah, das ziemlich attraktiv wirkte, aber phosphorglühende Augen und eine grüne, nach Quitten duftende Haut hatte.
    »Hab keine Angst«, flüsterte das Wesen, »ich bin nur vom älteren Stamm. Eine gewöhnliche Außergewöhnlichkeit.«
    »Die Veränderungen hält nichts auf«, sagte sie laut, »das Morgen wird anders sein als das

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