Narrenturm - Roman
Heute. So sehr, dass die Leute aufhören, an das Gestern zu glauben. Und der Herr Alp hat Recht, wenn er euch rät, öfter nach Süden zu blicken. Nach Böhmen. Denn von dort kommt das Neue. Von dort kommt die Veränderung.«
»Ich erlaube mir, ein wenig daran zu zweifeln«, meinte der Priester verbittert. »Von dort kommen Krieg und Mord. Und es kommt ein
tempus odii
, die Zeit des Hasses.«
»Und die Zeit der Rache«, warf die Hinkende mit dem blonden Zopf böse ein.
»Gut für uns!« Eine der Hexen rieb sich die Hände. »Ein bisschen Bewegung tut gut!«
»Die Zeit und das Schicksal«, meinte die Rothaarige bedeutungsvoll. »Ergeben wir uns in die Zeit und das Schicksal.«
»In ein Schicksal«, fügte die Müllerin hinzu, »dem wir nachhelfen, wenn es geht.«
»So oder so«, der Alp reckte sich, »ich behaupte, das ist der Anfang vom Ende. Die bestehende Ordnung wird fallen. Dieser in Rom ersonnene, gierige, sich arrogant nach Herrenart aufspielende, hasserfüllte Kult wird stürzen. Der Vater, der Sohn und der Geist! Eine gewöhnliche Triade, es gibt unzählige davon.«
»Was den Geist anbelangt«, merkte der Priester an, »so waren sie nahe dran an der Wahrheit. Nur das Geschlecht haben sie durcheinander gebracht.«
»Sie haben es nicht durcheinander gebracht«, widersprachihm die grünhäutige, nach Quitten duftende Gestalt. »Sie haben es abgestritten! Je nun, vielleicht werden sie jetzt, in der Zeit der Veränderungen, endlich begreifen, wen sie da so viele Jahre hindurch auf die Ikonen gemalt haben. Vielleicht dringt dann endlich zu ihnen durch, wen die Madonnen in ihren Kirchen in Wirklichkeit darstellen.«
»Heia!
Magna Mater
!«, riefen die Hexen im Chor. Über ihrem Schrei setzte wilde Musik ein, Trommeln dröhnten, Rufe und Gesänge erschollen von den Feuern ringsumher.
Nicoletta-Katharina schmiegte sich an Reynevan.
»Auf die Lichtung!«, rief die Rothaarige, »in den Kreis!«
»Heia! In den Kreis!«
»Hört!«, rief der Zauberer mit dem Hirschgeweih auf dem Kopf und hob die Arme. »Hört!«
Die auf der Lichtung versammelte Menge murmelte aufgeregt. »Hört das Wort der Göttin, deren Arme und Schenkel das All umfangen! Die am Anfang Wasser und Himmel voneinander schied und auf ihnen tanzte! Aus deren Tanz der Wind geboren ward, und aus dem Wind der Atem des Lebens!«
»Heia!«
Neben dem Zauberer stand die Domina und richtete sich stolz zu ihrer vollen königlichen Gestalt auf.
»Erhebt euch!«, rief sie und breitete ihren Mantel aus. »Erhebt euch und tretet zu mir!«
»Heia!
Magna Mater!
«
»Ich bin«, erklärte die Domina, und ihre Stimme war wie der Wind, der vom Berg herabweht, »ich bin die Schönheit der grünen Erde, ich bin der weiße Mond inmitten tausenden von Sternen, ich bin das Geheimnis der Wasser. Tretet zu mir, denn ich bin der Geist der Natur. Aus mir gehen alle Dinge hervor, und zu mir muss alles zurückkehren, vor mein Antlitz, dem die Götter und die Sterblichen huldigen.«
»Heiaaa!«
»Ich bin Lilith, ich bin die Erste von allen, ich bin Astarte,Kybele, Hekate, ich bin Rigatona, Epona, Rhiannon, die nächtliche Stute, die Geliebte des Windes. Schwarz sind meine Flügel, meine Füße sind schneller als der Wind, meine Hände lieblicher als der Morgentau. Der Löwe weiß nicht, wann ich ausschreite, kein Tier in Wald und Feld kennt meine Wege. Wahrlich, ich sage euch: Ich bin das Geheimnis, ich bin die Erkenntnis und das Wissen.«
Die Feuer loderten und sprühten Myriarden von Funken. Die Menge wogte in Ekstase.
»Ehret mich in der Tiefe eurer Herzen und mit der Fröhlichkeit eurer Bräuche, bringt das Opfer dar im Akt der Liebe und der Lust, denn ein solches Opfer ist mir genehm. Denn ich bin die unbefleckte Jungfrau, und ich bin die vor Verlangen glühende Geliebte der Götter und Dämonen. Wahrlich, ich sage euch: So wie ich mit euch war von Anbeginn, so findet ihr mich auch am Ende.«
»Hört die Worte der Göttin, derjenigen, deren Arme und Schenkel das All umfangen!«, rief der Zauberer zum Schluss. »Die am Anfang Wasser und Himmel voneinander schied und auf ihnen tanzte! Tanzt auch ihr!«
»Heia!
Magna Mater!
«
Die Domina streifte mit einer heftigen Bewegung den Mantel von ihren nackten Armen. Sie trat in die Mitte der Lichtung, ihre Gefährtinnen ihr zur Seite.
Alle drei standen sie da und hielten sich mit nach hinten ausgestreckten Armen bei den Händen, so wie manchmal auf Gemälden die drei Grazien dargestellt sind.
»
Magna
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