Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv

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seufzte nur.
    »Aglon, Vaycheon, Stimulamaton! Esphares, Olyaram, Irion! Mersilde! Du, dessen Blick die Abgründe durchdringt!
Te adoro, et te invoco!
«
    Es geschah nichts.
    »Esytion, Eryon, Onera! Mozm, Soter, Helomi!«
    Reynevan befeuchtete seine rissigen Lippen. An die Stelle, an welcher der verstorbene Circulos die Aufschrift VENI MERSILDE dreifach wiederholt hatte, legte er das Amulett mit der Schlange, dem Fisch und der von einem Dreieck eingerahmten Sonne.
    »Ostrata!«, sagte er, mit der aktivierenden Beschwörung beginnend. »Terpandu!« Ein Moment verging. »Ermas!«, wiederholte er, verneigte sich und modulierte die Stimme entsprechend den Anweisungen aus dem
Lemegeton
und dem
Kleinen Schlüssel Salomos.
»Pericatur! Beleuros!«
    Scharley fluchte, womit er Reynevans Aufmerksamkeit erregte. Reynevan traute seinen Augen kaum, als er sah, dass die in die Ziegel geritzten Zeichen innerhalb des Kreises mit einem phosphoreszierenden Licht zu leuchten begannen.
    »Beim Siegel von Basdathei! Mersilde! Du, dessen Blick die Abgründe durchdringt! Erscheine! Zabaoth! Escewerchie! Astrachios, Asach, Asarca!«
    Die Zeichen innerhalb des Kreises glühten immer heller, mit ihrem gespenstischen Licht beleuchteten sie die Wand. DieMauern des Turmes begannen spürbar zu erbeben. Horn fluchte. Thomas Alpha fing an zu wimmern. Einer der Debilen weinte laut und begann zu schreien. Scharley schnellte wie eine Feder in die Höhe, sprang hinzu, streckte ihn mit einem kurzen Faustschlag gegen die Schläfe aufs Lager nieder und brachte ihn so zum Schweigen.
    »Bosmoletic, Jeysmy, Eth.« Reynevan beugte sich vor und berührte mit seiner Stirn die Mitte des Pentagramms. Dann richtete er sich wieder auf und ergriff den angeschliffenen, an einem Stein geschärften, abgebrochenen Kopf eines Hufnagels. Mit einem kräftigen Schnitt ritzte er die Haut seiner Daumenkuppe und berührte mit dem blutenden Finger seine Stirn. Er sog die Luft ein, wohl wissend, dass nun der Moment des größten Wagnisses und der größten Gefahr nahte. Als genügend Blut floss, zeichnete er damit in die Mitte des Kreises ein Mal.
    Das geheime, schreckenerregende, verbotene Zeichen Scirlin.
    »
Veni
Mersilde!«, rief er, als er spürte, dass die Fundamente des Narrenturmes zu beben und zu zittern begannen.
    Thomas Alpha wimmerte erneut, verstummte aber sofort, als Scharley ihm die Faust zeigte. Der Turm erzitterte immer deutlicher.
    »Taul!«, evozierte Reynevan kehlig und krächzend, wie es die Grimuarien verlangten. »Varf! Pan!«
    Der Goetische Kreis zuckte in größerer Helle, die von ihm beleuchtete Stelle in der Mauer hörte auf, nur ein Lichtfleck zu sein, und begann Gestalt und Konturen anzunehmen. Die Konturen eines Menschen. Wohl nicht ganz denen eines Menschen entsprechend, denn Menschen haben weder so große Köpfe noch so lange Arme. Auch keine Hörner, die aus einer Stirn herauswuchsen, die wie bei einem Rind gewölbt war.
    Der Turm erzitterte, die Debilen heulten in verschiedenen Tonarten, Thomas Alpha stimmte in das Geheul mit ein. Horn sprang auf.
    »Genug damit!«, brüllte er und übertönte damit den Lärm. »Reynevan! Halt ein! Hör verdammt noch mal mit diesem Teufelszeug auf! Wir kommen alle durch dich um!«
    »Varf! Clemialh!«
    Die weiteren Worte der Evokation blieben ihm im Halse stecken. Die leuchtende Gestalt zeichnete sich mittlerweile schon so deutlich an der Wand ab, dass sie ihn aus zwei großen Schlangenaugen anblicken konnte. Als er sah, dass sich die Gestalt nicht aufs Sehen beschränkte, sondern auch die Hände ausstreckte, schrie Reynevan vor Angst. Das Grauen lähmte ihn.
    »Seru . . . geath!«, stammelte er, sich dessen bewusst, dass er weinte. »Ariwh . . .«
    Scharley sprang hinzu, packte ihn von hinten mit der einen Hand am Hals, hielt ihm mit der anderen Hand den Mund zu, zog ihn fort und zerrte den vor Schreck Leblosen über das Stroh in die am weitesten entfernte Ecke zwischen die Debilen. Thomas Alpha flüchtete sich auf die Treppe und rief mit furchteinflößenden Schreien um Hilfe. Horn hingegen, offensichtlich völlig verzweifelt, riss den Kübel vom Boden und schüttete ihn aus: über das
occultum,
über den Kreis, das Pentagramm und über die aus der Wand tretende Erscheinung.
    Der Schrei, der ertönte, bewirkte, dass sich alle die Ohren zuhielten und sich auf dem Boden zusammenkrümmten. Plötzlich kam ein heftiger Wind auf, ein Gestöber von Stroh und Staub fegte durch den Raum, Staub drang ihnen in die Augen