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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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nüchtern nicht zu antworten. Aber ich verspreche dir: Noch vor Sonnenuntergang erteile ich dir die Antwort.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das noch erlebe. Vielleicht vergehe ich vorher vor Neugierde.«
    Scharley erwiderte nichts, beschleunigte stattdessen seinen Schritt, so dass Reynevan das Pferd zu leichtem Trab anspornen musste. Rasch gelangten sie so zum Schweidnitzer Tor. Dahinter, hinter einer Gruppe im Schatten kauernder schmutziger Pilger und schwärenbedeckter Bettler, war schon Striegau mit seinen engen, schlammigen, stinkenden Gassen voller Leute.
    Wohin und zu welchem Ziel ihr Weg sie auch wies, Scharley kannte ihn, sicher und ohne zu zögern übernahm er die Führung. Sie gingen durch eine Gasse, in der so viele Webstühle klapperten, dass es die Weber- oder die Tuchgasse sein musste. Kurz darauf fanden sie sich auf einem Platz wieder, den ein Kirchturm überragte. Über den Platz waren   – wie man sehen und riechen konnte   – kurz zuvor Rinder getrieben worden.
    »Sieh nur«, sagte Scharley und blieb stehen. »Die Kirche, die Schenke, das Bordell und dazwischen in der Mitte ein Haufen Scheiße. Das ist das Sinnbild des menschlichen Lebens.«
    »Angeblich«, Reynevan lächelte nicht einmal, »philosophierst du nicht gern in nüchternem Zustand.«
    »Nach einer langen Zeit der Abstinenz«, Scharley lenkte seine Schritte unfehlbar in eine Seitengasse, zu einem Stand, der mit Fässchen und Humpen bestückt war, »benebelt mir schon der Geruch von gutem Bier den Verstand. He, guter Mann! Striegauer Weißes bitte! Vom Keller! Zahle du, mein Junge, denn wie schon die Schrift sagt,
argentum et aurum non est mihi.
«
    Reynevan lachte, warf aber ein paar Heller auf den Schanktisch.
    »Erfahre ich nun endlich, was dich hierher gebracht hat?«
    »Erfährst du. Aber erst dann, wenn ich mindestens drei von diesen Humpen geleert habe.«
    »Und dann?« Reynevan runzelte die Stirn. »Jenes eben erwähnte Hurenhaus?«
    »Nicht ausgeschlossen.« Scharley hob den Humpen. »Nicht ausgeschlossen, mein Junge.«
    »Und weiter? Ein dreitägiges Gelage zu Ehren der wiedergewonnenen Freiheit?«
    Scharley antwortete nicht, weil er trank. Aber bevor er den Humpen angesetzt hatte, hatte er etwas gemurmelt, was alles bedeuten konnte.
    Es war ein Fehler, vermutete Reynevan düster, den Blick auf den Adamsapfel des Demeriten gerichtet, der unter den Schlucken auf- und abhüpfte. Vielleicht lag der Fehler beim Kanonikus, vielleicht bei mir, weil ich auf ihn gehört habe. Dass ich mich mit dir eingelassen habe.
    Scharley trank und schenkte ihm keinerlei Beachtung.
    Zum Glück, überlegte Reynevan, weiterhin laut, kann man leicht damit fertig werden. Und ein Ende herbeiführen.
    Scharley setzte den Humpen ab, seufzte und leckte sich den Bierschaum von der Oberlippe.
    »Du willst mir etwas sagen«, meinte er dann. »Also rede.«
    »Wir zwei passen ganz einfach nicht zusammen«, erklärte Reynevan kühl.
    Der Demerit nickte, damit man ihm ein weiteres Bier einschenkte, und schien sich einen Moment lang ausschließlich für seinen Humpen zu interessieren.
    »Wir sind ein bisschen verschieden, das stimmt«, gab er dann zu und trank. »Ich zum Beispiel habe nicht die Angewohnheit, Ehefrauen anderer zu verführen. Wenn man gut sucht, finden sich gewiss noch ein paar Unterschiede. Das ist normal. Wir sind zwar nach dem Bilde Gottes erschaffen, aber der Schöpfer hat sich um individuelle Eigenschaften bemüht. Dafür gebührt ihm Ruhm.«
    Reynevan winkte ab, er wurde immer wütender. »Ich überlege, platzte er heraus, ob wir uns nicht Lebewohl sagen sollten. Hier, auf der Stelle. Dass wir auseinander gehen sollten,jeder auf seinen Weg. Denn ich weiß wirklich nicht, was wir miteinander gemein haben. Ich fürchte, nichts.«
    Scharley blickte ihn über den Humpen hinweg an.
    »Miteinander gemein haben?«, wiederholte er. »Wobei? Davon kannst du dich leicht überzeugen. Rufe nur: Zu Hilfe, Scharley!, und dir wird Hilfe zuteil.«
    Reynevan zuckte die Achseln und wandte sich um, mit der Absicht zu gehen. Er rempelte jemanden an. Und dieser Jemand schlug so mächtig auf sein Pferd ein, dass es wieherte, ihn beiseite drängte und dabei in den Straßenkot stieß.
    »Wie läufst du denn herum, du Flegel? Wo willst du mit der Schindmähre hin? Du bist hier in der Stadt, nicht in deinem beschissenen Dorf.«
    Der ihn bedrängt und beschimpft hatte, war einer von drei jungen Männern, reich, modern und elegant gekleidet. Alle drei sahen ziemlich

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