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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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er abwechselnd schrie und lachte. Schließlich schlug sein Ex-Beichtvater vor den Augen des verblüfften Reynevan einen Purzelbaum, sprang auf und machte über dem angewinkelten Ellenbogen eine ausgesprochen obszöne Geste in Richtung Tor. Die Geste wurde von einer langen Litanei von unflätigen Flüchen und Ausrufen begleitet. Einige betrafen den Prior persönlich, einige das Karmeliterkloster als solches, und einige waren allgemeiner Art.
    »Ich hätte nicht gedacht«, Reynevan beruhigte sein Pferd, das sich durch den Auftritt etwas aufgeregt hatte, »dass es dort so schwer war.«
    »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.« Scharley klopfte seine Kleidung sauber. »Das als Erstes. Zum Zweiten, enthalte dich möglichst jeglichen Kommentars, zumindest fürs Erste. Zum Dritten, auf in die Stadt.«
    »In die Stadt? Warum? Ich dachte . . .«
    »Denk nicht.«
    Reynevan zuckte die Achseln und trieb sein Pferd auf dem Weg an. Er tat, als wende er den Kopf, aber er konnte sich nicht davon abbringen, den neben dem Pferd herlaufenden Mann heimlich zu beobachten.
    Scharley war nicht sehr groß, er war sogar ein Stück kleiner als Reynevan, aber diese geringe Größe spielte keine Rolle, denn der Ex-Demerit war breitschultrig, von kräftiger Statur und gewiss sehr stark, was man aus den sehnigen, muskulösen Armen schließen konnte, die aus den zu kurzen Ärmeln hervorsahen. Scharley war nicht damit einverstanden gewesen, das Karmeliterkloster im Habit zu verlassen, und die Kleidung, die man ihm gegeben hatte, war etwas wunderlich.
    Das Antlitz des Demeriten wies ziemlich grobe, um nicht zu sagen derbe Züge auf; es war ein lebhaftes Gesicht, das sich ständig veränderte und eine ganze Reihe verschiedener Ausdrücke annehmen konnte. Die gebogene, männlich hervorspringende Nase trug noch Zeichen eines erst kürzlich verheilten Bruches, die Kerbe des Kinns trug die Spur einer älteren, aber deutlich sichtbaren Narbe. Scharleys Augen, von flaschengrüner Farbe, waren seltsam. Sobald man hineinblickte, tastete man unwillkürlich nach dem Geldbeutel oder dem Ring, prüfte, ob das Gesuchte noch da war. Ein beunruhigender Gedanke galt sodann Frau und Töchtern zu Hause, und der Glaube an die Tugend der Weiber stellte sich in seiner ganzen Naivität dar. Plötzlich verließ einen jede Hoffnung, geborgtes Geld zurückzubekommen, man wunderte sich nichtmehr über fünf Asse in einem Stoß Pikettkarten, ein echtes Siegel auf dem Dokument verlor seinen Wert, und ein teueres Reitpferd ließ unvermutet ein seltsames Lungenröcheln hören. All das empfand man, wenn man in Scharleys flaschengrüne Augen sah. In sein Gesicht, in dem entschieden mehr von Hermes denn von Apoll zu lesen stand.
    Sie ließen die große Fläche mit Vorstadtgärten hinter sich, dann die Kapelle und das Hospital von St. Nikolaus. Reynevan wusste, dass die Johanniter das Hospital leiteten, er wusste auch, dass der Orden in Striegau seine Komturei hatte. Sofort fiel ihm Herzog Konrad Kantner ein und sein Befehl, sich zu den Johannitern in Klein Oels zu begeben. Er begann, unruhig zu werden. Man konnte ihn mit den Johannitern in Verbindung bringen, ergo war der Weg, auf dem er ritt, nicht der eines Wolfes, der gejagt wurde: Er zweifelte, ob Kanonikus Beess seine Wahl gutgeheißen hätte. In diesem Augenblick bewies Scharley zum ersten Mal seinen Scharfsinn. Oder die ebenfalls seltene Kunst des Gedankenlesens.
    »Kein Grund zur Sorge«, verkündete er munter und fröhlich. »Striegau hat mehr als zweitausend Einwohner, da tauchen wir unter wie der Furz im Schneesturm. Außerdem bist du meiner Obhut anvertraut. Schließlich habe ich mich dazu verpflichtet.«
    »Die ganze Zeit«, antwortete Reynevan nach einer langen Pause, die er brauchte, um sich von seinem Staunen zu erholen, »die ganze Zeit überlege ich, wie viel dir eine solche Verpflichtung wert ist.«
    Scharley entblößte seine weißen Zähne zu einem Lächeln für die Leinsammlerinnen, wackeren Dirnen mit großzügig aufgeknöpften Hemden, die viel von ihren schweiß- und staubbedeckten Reizen sehen ließen. Die Dirnen zählten ein gutes Dutzend, und Scharley lächelte einer jeden von ihnen zu, so dass Reynevan die Hoffnung verlor, eine Antwort zu erhalten.
    »Deine Frage«, antwortete der Demerit überraschend, den Blick vom runden Hinterteil der letzten Leinsammlerin lösend, das unter dem schweißnassen Röcklein hin- und herschwenkte,»ist philosophischer Natur. Auf eine solche pflege ich

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