Narrenturm - Roman
Prophezeiungen auf seltsame Art zu erfüllen beginnen und Scharley eine Bekannte trifft. Und neue, bis dahin nicht preisgegebene Talente offenbart.
H inter dem Buchenwald, an der Kreuzung des Weges mit der Schneise, stand inmitten des hohen Grases ein steinernes Sühnekreuz, eines der in Schlesien häufig anzutreffenden Zeugnisse eines Verbrechens. Verwitterung und Grad der Zerstörung wiesen darauf hin, dass das Verbrechen sehr lange zurückliegen, ja noch älter sein musste als die Siedlung, deren Überreste unweit davon in Gestalt von üppig mit Unkraut bewachsenen Anhöhen und Senken zu sehen waren.
»Eine sehr späte Sühne«, meinte Scharley, der hinter Reynevans Rücken auftauchte. »Über Generationen hin. Erblich, sozusagen. Ein solches Kreuz in Stein zu hauen, erfordert viel Zeit. Erst der Sohn wird es aufstellen können und dabei krampfhaft überlegen, welchen Sterblichen der Vater wohl erschlagen und was ihn im Alter zur Buße bewogen hat. Stimmt’s, Reinmar? Wie denkst du darüber?«
»Ich denke nicht.«
»Bist du immer noch böse auf mich?«
»Bin ich nicht.«
»Ha! Lass uns hier entlangziehen. Unsere neuen Bekannten haben nicht gelogen. Die Schneise gegenüber dem Kreuz, obwohl sie bestimmt noch aus der Zeit Boleks des Kühnen stammt, wird uns unfehlbar auf die Schweidnitzer Straße führen.«
Reynevan trieb das Pferd an. Er schwieg immer noch, aber Scharley störte sich nicht daran.
»Ich muss zugeben, du hast mich schwer beeindruckt, Reinmar von Bielau. Bei den Hexen nämlich. Eine Hand voll Kräuter ins Feuer werfen, Sprüche und Beschwörungen stottern, Gebinde flechten, so etwas kann, seien wir ehrlich, jeder Quacksalber und jede Hexenkünstlerin. Aber deine Levitation, na, na, das war nicht ganz ohne. Gib es zu: Wo hast du in Prag studiert, an der Universität oder bei den böhmischen Hexenmeistern?«
»Das eine schließt das andere nicht aus.« Reynevan lächelte, seinen Erinnerungen nachhängend.
»Ich verstehe. Haben sich dort alle während der Vorlesungen in Levitationen geübt?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm der Demerit auf dem Pferderücken eine bequemere Haltung an.
»Aber zu meiner großen Verwunderung«, fuhr er dann fort, »fliehst du hier vor deinen Verfolgern auf eine Art durch die Wälder, die einem Hasen besser ansteht als einem Magier. Wenn sie fliehen müssen, tun Magier das normalerweise mit größerer Eleganz. Medea zum Beispiel ist aus Korinth auf einem von Drachen gezogenen Streitwagen geflohen, Atlantes auf einem Hippogryphen. Morgane führte mit Luftspiegelungen in die Irre, Viviane . . . Ich habe vergessen, was Viviane getan hat.«
Reynevan erwiderte nichts darauf. Er wusste es selbst auch nicht mehr.
»Du musst nicht antworten«, bemerkte Scharley noch spöttischer. »Ich verstehe es schon. Du hast zu wenig Wissen und Übung, du bist nur ein Adept der Geheimwissenschaften, gerade mal ein Zauberlehrling. Ein zartes Küken der Magie, aus dem aber irgendwann mal ein Adler erwächst, ein Merlin, Alberich oder Maugis. Und dann Gnade ihnen . . .«
Er verstummte, weil er mitten auf dem Weg dasselbe sah wie Reynevan.
»Unsere Bekannten, die Hexen, haben tatsächlich nicht gelogen«, flüsterte er. »Beweg dich nicht.«
Auf der Schneise stand, den Kopf nach unten und grasend, ein Pferd. Ein schmuckes Reitpferd, ein leichter
palefrois
mitschlanken Fesseln. Mit dunkelbraunem Fell und noch dunklerer Mähne und Schweif.
»Beweg dich nicht«, wiederholte Scharley und stieg vorsichtig ab. »So eine Gelegenheit kommt nicht so schnell wieder.«
»Dieses Pferd«, sagte Reynevan eindringlich, »ist jemandes Eigentum. Es gehört jemandem.«
»Natürlich. Mir. Wenn wir es nicht verscheuchen. Also erschreck’ es mir bloß nicht.«
Beim Anblick des sich langsam nähernden Demeriten hob das Pferd den Kopf, schüttelte die Mähne, wieherte, scheute aber nicht, sondern ließ sich am Halfter fassen. Scharley streichelte ihm die Nüstern.
»Das ist fremdes Eigentum«, beharrte Reynevan, »fremdes, Scharley. Wir müssen es dem Eigentümer zurückgeben.«
»Leute, Leute . . .«, brummte Scharley leise, »he! he! . . . Wessen Pferd ist das? Wo ist der Eigentümer? Siehst du, Reinmar, keiner meldet sich. Also,
res nullius cedit occupanti.
«
»Scharley . . .«
»Schon gut, schon gut, beruhige dich, belaste dein empfindsames Gewissen nicht damit. Wir geben das Pferd seinem Eigentümer zurück. Vorausgesetzt, dass wir ihm begegnen. Wovor uns die Götter bewahren mögen,
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