Narrenturm - Roman
Ihm blieb keine Zeit, sich daran zu erinnern, denn eben kam das Essen auf den Tisch. Nach einem Weilchen schlürften er und Scharley die Suppe, fischten Käsestückchen heraus und arbeiteten flink mit den Lindenholzlöffeln, aber im Rhythmus, um zu verhindern, dass sie in der Schüssel aneinander stießen. Dzierżka schwieg rücksichtsvoll, schaute ihnen zu und tätschelte ihren mit kaltem Bier gefüllten Krug.
»Wohin führt Gott euch, Scharley?«, fragte sie schließlich. »Und warum lässt du dich in den Wäldern auf Prügeleien mit Dörflern ein?«
»Wir sind auf Pilgerfahrt nach Wartha«, log der Demerit unbekümmert. »Zur Gottesmutter von Wartha, um für die Besserung dieser Welt zu beten. Uns haben sie völlig grundlos überfallen. Wahrlich, die Welt ist voller Ruchlosigkeit, und in den Schenken und den Wäldern triffst du eher Lumpen denn Ordensobere. Das Gesindel hat uns grundlos überfallen, ich sage es noch einmal, getrieben vom sündhaften Drange, Böses zu tun. Aber wir vergeben unsern Schuldigern . . .«
»Die Bauern habe ich gedungen, damit sie mir helfen, den Junghengst zu suchen, der uns entwischt war, unterbrach Dzierżka seinen Redefluss. Ich gebe zu, dass das widerliche Rüpel sind. Aber dann haben sie etwas von Gesuchten geschwafelt, von ausgesetzter Belohnung . . .«
»Phantasien von Hohlköpfen und weichen Hirnen«, seufzte der Demerit. »Wer kann die schon nachvollziehen . . .«
»Du hast zur Klosterbuße eingesessen? Stimmt’s?«
»Es stimmt.«
»Na und?«
»Nichts und.« Scharleys Gesichtsausdruck verriet nichts. Langeweile. »Ein Tag wie der andere. Rund um die Uhr.
Matutina,
Laudes, Prim, Terz, dann Barnabas-Gebet, Sexta, None, dann Barnabas-Gebet, Vesper,
collationes,
Komplet, dann Barnabas-Gebet . . .«
»Hör endlich auf mit diesem Unsinn!« Dzierżka unterbrach ihn erneut. »Du weißt sehr wohl, worum es mir geht, also rede: Bist du abgehauen? Jagen sie dich? Haben sie eine Belohnung auf dich ausgesetzt?«
»Das möge Gott verhüten!« Scharley setzte die Miene eines zu Unrecht Verdächtigten auf. »Man hat mich freigelassen. Niemand jagt mich, niemand verfolgt mich. Ich bin ein freier Mann.«
»Wie konnte ich das nur vergessen«, erwiderte sie spöttisch. »Aber schön, was soll’s, ich glaube dir. Und wenn ich das glaube . . ., dann drängt sich mir ein einfacher Gedanke auf.«
Scharley hob die Brauen über seinem blankgeleckten Löffel und brachte damit seine Neugier zum Ausdruck. Reynevan rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Zu Recht, wie sich zeigen sollte.
»Dann drängt sich mir ein einfacher Gedanke auf«, wiederholte Dzierżka de Wirsing und blickte ihn an. »Dann ist jener junge Herr Reinmar von Bielau das Objekt von Suche und Verfolgung. Wenn ich es nicht gleich erraten habe, Junge, dann nur deswegen, weil du bei solchen Affären kaum verlieren kannst, wenn du auf Scharley setzt. Oho, da haben sich zwei gefunden, wie die Mohnkörnchen im Scheffel . . .«
Sie hörte plötzlich auf zu sprechen und sprang zum Fenster.
»He, du!«, schrie sie. »Ja, du! Du Strolch! Skrofulöser Tollpatsch! Krummschwanz, du! Wenn du das Pferd noch einmalschlägst, lasse ich dich über den Dorfanger schleifen! – Entschuldigt!« Sie kam an den Tisch zurück und verschränkte die Arme über ihrer bebenden Brust. »Auf alles muss ich selbst ein Auge haben. Kaum schaut man einmal woandershin, schon ist der Teufel los bei diesen Nichtsnutzen! Wovon sprach ich doch gleich? Aha, dass ihr euch gefunden habt, ihr Schelme.«
»Also weißt du es.«
»Na, wie auch nicht? Gerüchte gehen um im Volke. Kyrieleison und Walter de Barby durchstreifen die Gegend. Wolfher Sterz reitet mit sechs Mann durch Schlesien, sucht, fragt, droht . . . Du brauchst den Kopf nicht hängen zu lassen, Scharley, und du, Junge, machst dir ganz umsonst Sorgen. Bei mir seid ihr sicher. Mich gehen Liebesabenteuer und Familienzwist nichts an, ich bin mit den Sterz’ weder verwandt noch verschwägert. Anders als bei dir, Reinmar Bielau. Denn du bist für mich ein Verwandter, auch wenn dich das wundert. Mach den Mund zu! Ich bin
de domo
eine Wirsing, von den Wirsings auf Reichwalde. Und die Wirsings auf Reichwalde sind über die Zedlitz mit den Nostitz verwandt. Und deine Großmutter war eine Tochter der Nostitz.«
»Das ist wahr.« Reynevan bezwang seine Verwunderung. »Aber dass Ihr, edle Frau, in Verwandtschaftsdingen so bewandert seid . . .«
»Ich weiß das eine oder andere, unterbrach sie ihn. Deinen
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