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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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genügte.
    Die Rothaarige hob eine bauchige, tönerne Flasche und nahm daraus einen tiefen Schluck, dann einen zweiten. Dem Mädchen bot sie nichts an, Jagna, die gierig die Hand danach ausstreckte, entzog sie das Gefäß, es außer Reichweite der Krallenfinger haltend. Sie blickte Reynevan unverwandt an, und die Pupillen ihrer hellen Augen wirkten wie zwei dunkle Punkte.
    »Na, na«, sagte sie staunend. »Wer hätte das gedacht. Magier, echte Magier der ersten Gilde, Toledo. Bei mir, einer einfachen Hexe. Welche Ehre! Tretet näher, tretet näher. Fürchtet nichts! Ihr habt doch wohl den Scherz übers Fressen und Menschenfresserei nicht ernst genommen? He? Das habt ihr doch wohl nicht geglaubt?«
    »Nein, woher denn?«, beteuerte Scharley eifrig, so eifrig, dass klar wurde, dass er log. Die Rothaarige brach in lautes Gelächter aus.
    »Was also«, erkundigte sie sich, »suchen die Herren Zauberer in meinem bescheidenen Winkel? Was wünscht ihr? Vielleicht . . .«
    Sie brach ab und lachte erneut.
    »Vielleicht haben sich die Herren Zauberer auch nur ganz einfach verirrt? Und wollen nach dem Weg fragen? Die Magie in ihrem männlichen Stolz vernachlässigend? Und jetzt erlaubtihnen der nämliche Stolz nicht, es zuzugeben, besonders Frauen gegenüber?«
    Scharley hatte seine Haltung wiedererlangt.
    »Die Schärfe Eures Verstandes geht einher mit Eurer Schönheit.« Er verbeugte sich nach höfischer Manier.
    »Seht doch einmal, meine Schwestern«, die Zähne der Hexe blitzten, »was für ein Kavalier sich da eingefunden hat, wie nett er Komplimente anzubringen weiß. Der kann einer Frau eine solche Freude bereiten, dass du denkst: ein Troubadour. Oder ein Bischof. Schade, dass das so selten vorkommt. Frauen und Mädchen riskieren nicht selten den Weg durch Waldesdickicht und Einöde, mein Ruf reicht weit, kaum eine kann die Leibesfrucht so geschickt, sicher und schmerzlos entfernen wie ich. Aber die Männer . . . Je nun, sie kommen immer seltener . . . Viel seltener . . . Und das ist schade . . . schade . . .«
    Jagna lachte kehlig, das Mädchen rümpfte die Nase. Scharley errötete, aber wohl eher vor Vergnügen, denn aus Sorge. Reynevan hatte inzwischen auch wieder seinen Verstand beisammen. Es war ihm gelungen, den Dampf des blubbernden Kessels schnuppernd zu erkunden und herauszufinden, was er wissen musste, und auch die Käutersträuße eingehend zu betrachten, sowohl die getrockneten als auch die frischen.
    »Die Schönheit und der Scharfsinn der Damen gehen einher mit ihrer Bescheidenheit.« Er richtete sich auf, ein bisschen aufmüpfig, sich aber dessen wohl bewusst, dass er die Wirkung nicht verfehlen würde. »Denn ich bin sicher, dass zahlreiche Gäste hierher kommen, und das nicht nur, um ärztliche Hilfe zu suchen. Ich sehe hier weißen Spechtwurz, und dort, ist das nicht ›Dornenbrot‹, also Stechapfel? Dort Übelwurz, dort Gottestrost, das Kraut der Weissagung. Und hier bitte, Schwarzes Bilsenkraut,
herba Apollinaris
, und Grüne Nieswurz,
Helleborus,
beide rufen Visionen hervor. An Weissagungen und Prophezeiungen besteht Bedarf, ich irre mich doch nicht?«
    Jagna rülpste. Das Mädchen durchbohrte ihn mit seinem Blick. Die Rothaarige lächelte rätselhaft.
    »Du irrst dich nicht, kräuterkundiger Confrater«, sagte sie schließlich. »Die Nachfrage nach Weissagungen und Prophezeiungen ist groß. Die Zeit der Wechsel und Veränderungen ist gekommen, viele wollen wissen, was sie bringt. Und ihr wollt es auch. Erfahren, was das Schicksal euch beschert. Ich irre mich doch nicht?«
     
    Die Rothaarige warf Kräuter in den Kessel und rührte darin herum. Weissagen sollte aber das junge Mädchen mit dem Fuchsgesicht und den fiebrig glühenden Augen. Wenige Augenblicke nachdem sie das Gebäu getrunken hatte, wurde ihr Blick stumpf, die trockene Haut spannte sich über den Wangen, und die Unterlippe gab die Zähne frei.
    »Columna veli aurei«
, sagte sie plötzlich undeutlich. »Die Säule des goldenen Schleiers. Geboren in Genazzano, in Rom das Leben vollendet. In sechs Jahren. Den verlassenen Platz nimmt die Wölfin ein. Am Sonntag
Oculi.
In sechs Jahren.«
    Die Stille, in die nur das Prasseln des Feuers und das Schnurren der Katze drangen, währte so lange, dass Reynevan zu zweifeln begann. Er sollte nicht Recht behalten.
    »Bevor noch zwei Tage vergehen«, sprach das Mädchen weiter und streckte die zitternde Hand nach ihm aus, »wird er ein berühmter Poet sein. Bei allen wird sein Name berühmt

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