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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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werden.«
    Scharley schüttelte sich leicht, weil er sich das Lachen verbeißen musste, fand aber unter dem scharfen Blick der Rothaarigen rasch seine Ruhe wieder.
    »Es kommt der Wanderer«, die Wahrsagerin atmete ein paarmal tief ein und aus, »es kommt der
Viator,
der Wanderer von der Sonnenseite. Der Austausch vollendet sich. Einer geht von uns, der Wanderer kommt zu uns. Der Wanderer spricht:
ego sum qui sum.
Frage den Wanderer nicht nach dem Namen, er ist ein Geheimnis. Weil etwas ist, der das errät: Aus dem, der es auffrisst, kommt das, was man verzehrt, aus dem Starken kommt die Süße.«
    Der tote Löwe, die Bienen und der Honig, dachte Reynevan, das Rätsel, das Samson den Philistern aufgab. Samson und der Honig . . . Was hat das zu bedeuten? Was symbolisiert es? Und wer ist jener Wanderer?
    »Dein Bruder ruft«, erregte sich die leise Stimme des Mediums. »Dein Bruder ruft: Geh und komm. Geh und spring über die Berge. Verweile nicht.«
    Er hörte aufmerksam zu.
    »Jesaja spricht: Sie sind versammelt, im Loch gefangen, im Kerker verschlossen. Das Amulett . . . Und die Ratte . . . Das Amulett und die Ratte. Yin und Yang, Keter und Malkut. Sonne, Schlange und Fisch. Sie öffnen sich, die Tore der Hölle tun sich auf, dann stürzt der Turm, die
turris fulgarata
bricht zusammen, der Turm, vom Blitz getroffen. In Staub zerfällt der Narrenturm, er wird den Narren unter sich begraben.«
    Narrenturm, wiederholte Reynevan in Gedanken, der Narrenturm! Um Gottes willen!
    »Adsumus, adsumus, adsumus!«
, schrie das Mädchen plötzlich und versteifte sich heftig. »Wir sind da! Der Pfeil, der am Tage fliegt,
sagitta volante in die,
hüte dich davor, hüte dich! Hüte dich vor dem nächtlichen Schrecken, hüte dich vor dem Wesen, das in der Dämmerung kommt, hüte dich vor dem Dämon, der um die Mittagsstunde zerstört! Und der ruft:
Adsumus!
Hüte dich vor dem Mauerläufer! Hüte dich vor den Nachtvögeln, fürchte die stillen Fledermäuse!«
    Jagna hatte inzwischen lautlos, die Unaufmerksamkeit der Rothaarigen ausnutzend, die bauchige Flasche ergriffen und ein paar tiefe Züge daraus getan. Sie hustete und rülpste.
    »Hüte dich auch«, krächzte sie, »vor dem Wald von Birnam.«
    Die Rothaarige brachte sie mit einem Rippenstoß zum Schweigen.
    »Aber die Menschen«, seufzte die Wahrsagerin laut, »werden brennen, brennen im feurigen Lauf. Irrtümlich. Durch die Ähnlichkeit der Namen.«
    Reynevan beugte sich zu ihr hinüber.
    »Wer hat getötet?«, fragte er leise. »Wer trägt die Schuld an meines Bruders Tod?«
    Die Rothaarige zischte wütend und warnend, sie drohte ihm mit der Faust. Reynevan war sich dessen bewusst, dass er etwas tat, was man nicht tun durfte, dass er riskierte, die weissagerische Trance unwiederbringlich zu unterbrechen. Aber er wiederholte die Frage. Die Antwort darauf erhielt er sogleich.
    »Die Schuld trägt der Erzlügner«, krächzte das Mädchen nurmehr. »Der Lügner oder der, der die Wahrheit sagt. Die Wahrheit sagt. Er lügt, oder er sagt die Wahrheit. Versengt, angebrannt, verbrannt. Nicht verbrannt, aber tot. Tot und begraben. Bald wieder ausgegraben. Bevor noch drei Jahre vergehen. Aus dem Grab geworfen.
Buried at Lutterworth, remains taken up and cast out . . .
Es schwimmt die Asche aus verbrannten Knochen den Fluss hinab . . . Vom Avon in den Severn, vom Severn ins Meer, vom Meer in den Ozean . . . Lauft, lauft, rettet euer Leben. Es ist nur noch so wenig Zeit.«
    »Ein Pferd«, unterbrach Scharley sie plötzlich frech. »Um zu fliehen, brauche ich ein Pferd. Ich will . . .«
    Reynevan brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Das Mädchen schaute mit blicklosen Augen einher. Er zweifelte, dass sie antworten würde. Er irrte sich.
    »Ein kastanienbraunes Pferd . . .«, stotterte sie, »ein kastanienbraunes Pferd wird da sein.«
    »Ich möchte noch . . .«, versuchte Reynevan zu fragen, aber er brach ab, als er sah, dass es vorbei war. Die Augen des Mädchens schlossen sich, der Kopf fiel haltlos herab. Die Rothaarige fing sie auf und legt sie sanft zu Boden.
    »Ich halte euch nicht auf«, sagte sie kurz darauf. »Reitet die Schlucht entlang und biegt immer nach links ab, immer nur nach links. Da kommt ein Buchenwald, dann eine Lichtung und darauf ein Steinkreuz. Dem Kreuz gegenüber beginnt eine Schneise. Sie führt euch auf die Straße nach Schweidnitz.«
    »Danke, Schwester.«
    »Passt auf euch auf. Unser sind nur noch wenige.«

Elftes Kapitel
    in dem sich die seltsamen

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